Von Viktor Dormann
„Die frömmsten Cheiben sind oft die schlechtesten Siechen“, hat einer meiner Onkel – als katholischer Priester hatte er entsprechende Erfahrung – vor Jahrzehnten festgestellt. Die Situation hat sich unterdessen kaum verändert; die vielen aufgedeckten Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern durch Kleriker der katholischen Kirche sind ein leidvolles Beispiel dafür.
Darüber hinaus zeigen Religionen rund um die Erde weitere bedenkliche Züge. In der medialen Öffentlichkeit prägen fundamentalistische oder gar terroristische Gruppen die Wahrnehmung, seien es fanatische Hindus in Indien mit ihren Anschlägen auf Christen und Muslime, „Gotteskrieger“ in Form von Selbstmordattentätern im Islam, aggressive jüdische Siedler in Palästina oder christliche Vereinigungen in den USA, in deren Geist etwa der frühere US-Präsident George W. Bush sich als Kämpfer gegen die „Achse des Bösen“ berufen fühlte und fahrlässig Krieg anzettelte. Oder in deren Geist Anhänger des sogenannten Kreationismus die Schöpfungstexte der Bibel bis heute wortwörtlich verstehen und sich gegen unabweisbare Erkenntnisse der Evolutionslehre völlig verbohrt zeigen.
Auch die katholische Kirche äussert sich in manchen aktuellen Fragen mehr rückwärts gewandt als weiterführend. Ihre Doktrin etwa in Fragen der Geburtenplanung und Sexualität wirkt lebensfremd statt lebensfreundlich. Der Ausschluss der Frau von kirchlichen Weiheämtern wird von vielen Zeitgenossen als sexistisch empfunden, der Umgang mit Geschiedenen als erbarmungslos. Kommt dazu, dass sich gerade traditionalistische Fromme, die in jeder Reform Verrat wittern, selber gern als Verkörperung wahrer Religiosität empfinden und so das Erscheinungsbild ihrer Glaubensgemeinschaften übermässig stark prägen.
Atheismus als Programm
Wenn daher Kirchen und Religionen in der Öffentlichkeit manchenorts ein kalter Wind entgegen bläst, ist der darin bezeugte Widerstand unter Umständen durchaus berechtigt. Manche Fragen werden ja auch innerhalb der betroffenen Glaubensgemeinschaften kontrovers behandelt. Dass vor diesem Hintergrund ein „bekennender“ Atheist wie etwa der englische Zoologe und Biologe Richard Dawkins kein Blatt vor den Mund nimmt und Schwachpunkte der Religionen gleich bücherweise zusammenträgt, ist nicht verwunderlich. Dawkins beschränkt seine Kritik allerdings nicht auf kirchliche Betriebsunfälle, sondern stellt den Gottesglauben grundsätzlich als krank dar, wenn er diesen im gleichnamigen Buch als „Gotteswahn“ bezeichnet.
Wahn definiert er dabei als „dauerhaft falsche Vorstellung, die trotz starker entgegengesetzter Belege aufrecht erhalten wird“. Der Gott der Bibel ist seiner Ansicht nach ein „kleinlicher, ungerechter, nachtragender Überwachungsfanatiker, ein rachsüchtiger, blutrünstiger ethnischer Säuberer, ein frauenfeindlicher, homophober, rassistischer, Kinder und Völker mordender […] Tyrann“.
Wie gesagt: Religion ist in manchem kritikwürdig, und Gläubige können nicht jede sie befremdende Äusserung Andersdenkender als Verletzung ihrer religiösen Gefühle abtun. Allerdings offenbart auch ein Religionskritiker wie Dawkins erhebliche Schwachstellen. In seiner Demontierung des Glaubens erscheint mir vor allem der Umgang mit der Bibel fragwürdig. Wenn Dawkins als Evolutionsbiologe gegen Gläubige zu Felde zieht, die den biblischen Schöpfungstext von der Erschaffung der Erde in sechs Tagen als wissenschaftlichen Tatsachenbericht verstehen, tut er dies zu Recht.
Völlig unverständlich ist es aber, wenn er selbst in der Folge die ganze Bibel von A bis Z wortwörtlich verstanden wissen will und andere Deutungsformen als blosses „Herauspicken“ nach persönlichen Vorlieben disqualifiziert. Dabei unterschied die Exegese schon im Altertum einen vierfachen Schriftsinn und entwickelte in den letzten 150 Jahren mit modernen Methoden der Textkritik weitere Zugänge. Dawkins Deutungsmuster der Bibel ist ein Zerrbild, das sich in dieser Form leicht abschiessen lässt. In diesem Punkt hat er sogar die zeitgenössische Theologie samt der päpstlichen Bibelkommission auf seiner Seite.
Vernünftig glauben
Dawkins verkennt, dass die rund siebzig verschiedenen Texte der Bibel im Zeitraum von über tausend Jahren entstanden sind, so dass das darin bekundete Gottes-, Welt- und Menschenbild nicht einheitlich ist, sondern eine Entwicklung – Evolution auch hier! – durchmachte. Ein Beispiel dafür sind die Aussagen über Krieg und Gewalt, nach denen Dawkins Gott als den erwähnten „ethnischen Säuberer“ und „Völker mordenden Tyrannen“ charakterisiert.
Tatsächlich finden sich in der Bibel Texte, die das hemmungslose Ausleben von Gewalt gegen Feinde ungebrochen darstellen. Doch da steht auch der Aufruf zur Feindesliebe mit dem Impuls, die Spirale von Gewalt und Gegengewalt aufzubrechen. Oder da muss der im Einsatz von Gewalt nicht zimperliche König David erleben, wie diese Mentalität seine eigene Familie zerstört, indem sich seine Söhne im Kampf um die Königsnachfolge umbringen – Gewaltkritik nicht mit der Moralkeule, sondern durch die nüchterne Darstellung der Folgen von Gewalt. Die Bibel zeigt die Welt, wie sie ist, und eröffnet eben darin Wege, in Sachen Menschlichkeit voranzukommen. Dabei reflektiert sie selber kritisch, wo Menschen Gottes Namen missbrauchen. Bei manchen Propheten und auch bei Jesus klingt dies mitunter nicht weniger deutlich als bei einem Atheisten wie Dawkins. Christen haben keinen Grund, Religionskritik ihren Gegnern zu überlassen, sondern sind selber zu einem vernünftigen Glauben ermächtigt.