Den Populismus gibt es nicht. Das zeigt sich deutlich, wenn man etwa die widersprüchlichen Forderungen der Gelbwesten in Frankreich betrachtet oder die aktuelle Regierungskoalition in Italien. Der Protest gegen die «Eliten» kommt alles andere als monolithisch daher, vielmehr bestehen da ganz unterschiedliche Zielrichtungen, die sich im Übrigen durchaus auf die alte Links-Rechts-Achse abtragen lassen.
Diese Diversität innerhalb der populistischen Bewegungen beleuchtet Philip Manow mit einer Studie, in der er die Protestprogramme ausdrücklich auf wirtschaftliche wie soziale Problemkonstellationen in verschiedenen europäischen Ländern bezieht. Damit setzt er sich ab gegen einschlägige Muster der Kritik, die dazu neigen, dem Populismus eine politische Dimension überhaupt abzusprechen, um ihn mehr oder weniger auf eine Frage des Stils zu reduzieren.
Eindimensionale Erklärungen greifen nicht
Manow geht auch auf Distanz zu monokausalen Erklärungsansätzen, wie etwa der These, Populismus bilde unmittelbar die Reaktion auf wirtschaftlichen Abstieg. Dieser Zusammenhang lässt sich nämlich durch soziologische Fakten kaum erhärten. Im Vergleich verschiedener Länder zeigt sich keine eindeutige Korrelation zwischen der Arbeitslosenquote und der Stärke populistischer Parteien bei Wahlen. Das wiederum führt dann zur Schlussfolgerung, dass der Protest eben nicht politisch motiviert sei.
Auch mit der psychologisierenden These vom kulturellen Abwehrreflex geht Manow ins Gericht; denn diese sieht im Populismus primär einen antiliberalen Backlash, und von da ist der Weg nicht weit bis zur moralischen Verurteilung.
Dabei ist es nicht so, dass diese Erklärungen in sich völlig falsch wären; Manow verortet die Problematik vielmehr bei ihrer Eindimensionalität: Indem sie das Phänomen beschränkt aus einem bestimmten Gesichtswinkel betrachten, vereinheitlichen sie den Populismus in einer Weise, die seiner Vielgestaltigkeit widerspricht und zudem konkrete Interesselagen verdrängt.
Politische Geographie des Populismus
Natürlich, der Populismus ist eine Antwort auf die Effekte der Globalisierung, das bestreitet auch diese Studie nicht. Durch die freie Zirkulation von Gütern, Kapital und Menschen sind alle nationalen Ökonomien herausgefordert. Doch die Auswirkungen auf einzelne Länder gestalten sich höchst unterschiedlich, rufen also je wieder andere Problemstellungen hervor. Um diese Divergenz erfassen zu können, entwirft Manow eine «politische Geographie des Populismus» für Europa. Dieser unterlegt er zunächst einmal die gängige Nord-Süd-Achse.
Für Mittel- und Nordeuropa konstatiert er ein Vorherrschen jenes Rechtspopulismus, der sich am liberalisierten Geld- und Warenverkehr kaum stört, umso mehr dafür an der Migration, beziehungsweise am Ideal der Personenfreizügigkeit. Im Mittelmeerraum dagegen dominiert eine linke Variante, die eher Anstoss nimmt an den liberalen Finanzspielregeln, welche die Mobilität des Kapitals garantieren und damit die verschuldeten Staaten – wie nach der Eurokrise 2011 – hochgradig erpressbar machen. Bei diesem Befund stützt sich der Autor auf die Ergebnisse der Europawahl von 2014 sowie auf die jeweils letzte Parlamentswahl in den einzelnen Ländern. Zur Erklärung führt er zwei Faktoren an: einmal die Ausrichtung der verschiedenen nationalen Wirtschaften, dann den Ausbaugrad der Sozialsysteme.
Eine Anomalie bei der geografischen Verteilung des Populismus scheint Italien darzustellen, wo sich Links- und Rechtspopulisten sogar zu einer Regierungskoalition vereinigt haben. Manow sieht seine These aber insofern am Fall Italiens bestätigt, als im industrialisierten Norden die rechte Lega, im rückständigen Süden dagegen Cinque Stelle dominiert. Italien bildet so im Grunde ein Abbild Europas im Kleinen.
Export- oder konsumgetriebene Wirtschaft
Die Wirtschaften Mittel- und Nordeuropas sind exportorientiert und auf die Herstellung technisch hochwertiger Produkte, unter anderen von Investitionsgütern, angelegt. So verfügen die entsprechenden Länder über eine hohe internationale Wettbewerbsfähigkeit und weisen tendenziell positive Handelsbilanzen auf. Hier stellt also der freie Handel recht eigentlich den Wohlstandsmotor dar und zieht deshalb kaum Kritik auf sich.
Anders sieht es im Süden aus, wo das Wachstum an den Binnenmarkt gekoppelt ist und traditionell durch Staatsverschuldung angetrieben wurde. Diese liess sich lange über Inflation und Abwertung kompensieren, doch seit dem Beitritt zur Eurozone ist dieser Weg versperrt. Nun stehen die Mittelmeerländer unter dem Druck, sich der restriktiven Haushaltspolitik der nördlichen Nachbarn anzupassen. Damit fehlen wichtige Wachstumsimpulse, und es ist nur logisch, dass die Bevölkerungen das Regime des globalen Freihandels nicht als Segen empfinden.
Unterschiedliche Zugänglichkeit sozialer Netze
Dafür reagieren die Menschen im Süden weniger allergisch auf die Migration, und das, obwohl ihre Länder für Flüchtlinge zumeist die erste Anlaufstelle bilden. Anders als im Norden wird hier jedoch die Zuwanderung nicht als grundsätzliches Verteilungsproblem wahrgenommen. Nach Manow hat das mit einer Besonderheit zu tun, die für den Mittelmeerraum typisch ist. Zwar wurden auch hier in der Nachkriegszeit Netze der sozialen Absicherung aufgebaut, doch blieb der Sozialstaat im Süden «klientelistisch» verfasst. Das heisst, wenn jemand mal drin ist, profitiert er; aber für Outsider – zum Beispiel Migranten – ist es äusserst schwierig, Zugang zu erhalten. Um zu überleben, suchen Flüchtlinge, sofern sie überhaupt bleiben, Beschäftigungen im informellen Sektor, wo sie als billige Arbeitskräfte durchaus gefragt sind.
Bei den Sozialstaaten Mittel- und Nordeuropas sind die Eintrittsschwellen niedriger; grundsätzlich hat jeder Bedürftige Anspruch, auch der mittellose Neuankömmling. Das macht diese Länder natürlich attraktiv als Ziele für die Fluchtmigration, löst deshalb aber auch Ängste aus bezüglich einer Überforderung des Sozialstaats – schon gar, wenn wie im Herbst 2015 in kurzer Zeit Hunderttausende ankommen. Die Einwanderung in den Sozialstaat wird zum Schreckbild, mit dem rechte Parteien ihre Anhänger mobilisieren können.
Und die rekrutieren sich zu beträchtlichen Teilen nicht aus dem Umfeld der aktuellen Globalisierungsverlierer, sondern aus Angehörigen der Mittelschicht, die erst vom Gespenst des Abstiegs verunsichert werden. Sie nehmen noch kaum Sozialleistungen in Anspruch, befürchten aber, dass nichts mehr da sein wird, wenn sie oder ihre Nachkommen darauf angewiesen sein sollten. Einen Vorgeschmack darauf gibt nicht zuletzt der Umstand, dass die Garantie des Sozialstaats bereits von der Status- zur Grundsicherung zurückgefahren wurde, und das nicht nur in Deutschland mit Schröders Agenda 2010, sondern der Tendenz nach selbst in Skandinavien.
Der Fall Grossbritannien
Einen Sonderfall in der politischen Geografie Europas stellt Grossbritannien dar. Nach der Deindustrialisierung des Landes in der Thatcher-Ära hat sich hier eine Dienstleistungsgesellschaft etabliert, die durch einen breiten Niedriglohn-Sektor charakterisiert ist. Entsprechend der liberalen angelsächsischen Tradition wurde auch der Sozialstaat schlank gehalten und der Arbeitsmarkt zeigt sich verglichen mit dem übrigen Europa stark dereguliert. Diese Situation zieht nicht in erster Linie Fluchtmigration an, vor der das Land zusätzlich durch seine geografische Lage geschützt ist. Aber seit dem Beitritt zur EU strömen Arbeitssuchende aus Osteuropa auf die Insel. Sie werden zu Konkurrenten für niedrigqualifizierte Briten, welche Dienstleistungen zu ohnehin schon tiefen Löhnen erbringen.
Es ist also in erster Linie die Arbeitsmigration aus Kontinentaleuropa, welche den Rechtspopulismus in England (Schottland würde ja gern in der EU bleiben) befeuert. Dazu kommen Ressentiments, die sich aus der tiefen ökonomischen und sozialen Kluft ergeben, welche sich zwischen den global orientierten Cities im Süden und den ärmlichen ländlichen Gebieten aufgetan hat. Menschen, die schon durch die Deindustrialisierung einmal die Existenzgrundlage verloren haben, sehen sich vor einem weiteren Abstieg, diesmal ins Bodenlose. Kein Wunder, stossen sie sich an der Personenfreizügigkeit im Rahmen der EU. Sie möchten sich abschotten gegen eine Zuwanderung, die ihre Arbeitsplätze bedroht und die Löhne unter Druck setzt. Für den Populismus in Grossbritannien gilt die Verlierer-These insofern, als tatsächlich die Absteiger aus der unteren Mittelschicht den Hauptharst der Brexit-Befürworter stellen.
Die Populisten ernst nehmen
Manows Studie richtet sich gegen eine Tendenz in der Populismusdebatte, das Phänomen zu kulturalisieren, das heisst es auf einen Abwehrreflex zurückzuführen, in dem angeblich bloss die kulturelle Rückständigkeit gewisser Schichten zum Ausdruck kommt. Implizit steckt da immer schon eine moralische Abwertung dahinter, die es den Eliten erlaubt, entschiedenen Globalisierungsgegnern den politischen Dialog zu verweigern und ihre konkreten Forderungen auszublenden. Das zeugt nicht nur von Arroganz, sondern auch von Kurzsichtigkeit; denn der Populismus wird gären, solange die Probleme ungelöst sind, aus denen er die Energie bezieht.
Manow betont die Vielgestaltigkeit des populistischen Protests wie der Problemlagen, auf die er reagiert. Damit gibt er der Bewegung quasi die Würde der politischen Rationalität zurück: Da ist nicht einfach ein Haufen von Ungewaschenen und kognitiv Benachteiligten, die sich in einer destruktiven Verweigerungshaltung gefallen. Es geht um Konkretes, um gesellschaftliche Spieregeln, die aktuell bestimmte Gruppen deutlich benachteiligen. Deren Vertreter bringen Interessen vor, oft schrill artikuliert, im Kern aber vernünftig nachvollziehbar. Man mag die Ausdrucksformen des Protests unappetitlich finden – ganz besonders am rechten Rand. Aber grundsätzlich verdienen die Populisten Anerkennung als ernsthafte politische Mitspieler. Ihre Ausgrenzung jedenfalls – so die Quintessenz von Manows Studie – löst gar nichts.
Philip Manow: Die Politische Ökonomie des Populismus, Edition Suhrkamp, Berlin 2018, 176 Seiten