„Nightmare. Cities of Libya“ ist eine nur ein paar Zentimeter grosse querrechteckige Beleistiftzeichnung betitelt. Aus dem Dunkelgrau leuchten elf kleine Punkte. So böte sich das Bild des nächtlichen Libyen aus dem Flugzeug an: Die Küstenstädte bilden eine Perlenkette. Die Zeichnung liegt mit Hunderten von Bildern, Bildchen, kleinen Farbblöcken, Drucken, Zetteln, kleinen Landkarten von Krisengebieten, ausgekochten und mit Farbe versehenen Markbeinen, in Farbe eingegossenen Schlagringen usw. auf einem langgestreckten Holztisch. Stefan Gritsch nahm ihn aus seinem Atelier mit ins Aargauer Kunsthaus, wo ihm die Direktorin Madeleine Schuppli und die Kuratorin Yasmin Afschar eine grosse Ausstellung ausrichten.
Fragen statt Antworten
Stefan Gritsch, 68-jährig, lebt in Lenzburg, war viele Jahre Professor an der Hochschule Design & Kunst in Luzern, gehört zu den vielseitigsten Schweizer Künstlern seiner Generation und bedient sich ganz unterschiedlicher Medien – Malerei, Zeichnung, Skulptur, Objekt, Fotografie, performative Aktion. Er legt in seiner Arbeit ein Plädoyer ab für Sowohl-als-Auch, Beweglichkeit, Veränderung und Offenheit. Damit fordert er nicht nur sich selber, sondern auch sein Gegenüber, die Betrachterinnen und Betrachter, denn der Künstler bietet keine Antworten und Lösungen. Er stellt Fragen und weckt Aufmerksamkeit. Er fordert Interpretationen, statt sie selbst zu liefern. Anspruchsvoll? Ja – aber für die Ausstellungsbesucherinnen und -besucher zugleich gewinnbringend und lustfördernd.
„Nightmare. Cities of Libya“ ist ein Beispiel. Das kleine Bild ist poetisch und schön. Es zeigt eine Licht-Perlenkette. Doch was heisst Schönheit? Der Titel lenkt unsere Aufmerksamkeit und provoziert eine Stellungnahme: Der Nachtmahr, der Albtraum, ist der nächtliche Schrecken. Die Städte Libyens stehen für Krieg, Katastrophe, Unmenschlichkeit. Wer denkt da an Schönheit? Ähnlich die vielen Kartenausschnitte mit Ortsnamen oder die Seifen, in die ebenfalls Namen von Städten eingraviert sind. Poetische Klänge, Seife als Zeichen von Reinheit und Schönheit. Die Brücke zur Realität haben wir zu schlagen. Der Graben ist tief.
Farbe als Material
Auf dem Ateliertisch stehen auch kleine Farbblöcke. Seit Jahren bedient sich Gritsch, ursprünglich Maler, der Farbe nicht als Bedeutungsträgerin oder als Mittel zur Illustration. Vor Jahren schon kratzte er, der Malerei überdrüssig, die Acrylfarbe von der Leinwand und formte sie zu Blöcken, deren Schnittkanten in bunten Marmorierungen leuchten. Sie sind zu einer Art Markenzeichen Gritschs geworden. Dahinter steht nicht nur eine Geste des Skulpturalen, die sich in Kunst-am-Bau-Arbeiten oft zu Raumkonzepten ausweitete, sondern auch eine Kritik der Malerei und wohl auch der Kunst-Institutionen. Zudem weitet der Maler so seine Aktivitäten über die eng begrenzte Leinwand hinaus.
Farbe ist Material, hier trivial wie anderes Material auch, dort hoch ästhetisiert. Der Maler stimmt der Bemerkung zu, er, Gritsch, könne die Farbe wohl als bedeutungsfreies Material nehmen; für uns als Betrachterinnen und Betrachter sei sie aber trotzdem mit Atmosphärischem, mit Stimmungen und damit mit Sinn und Bedeutung verbunden. Nur sei die Interpretation stets uns überlassen. Er liefere sie nicht. Im zweiten Raum der Ausstellung lässt Gritsch die Besucherinnen und Besucher diese Farbblöcke neu erleben. Üblicherweise sehen wir die Blöcke von aussen. Hier stehen wir mitten drin. Der Raum ist tapeziert mit riesigen Vergrösserungen dieser Farbblock-Schnitte und lässt uns in das Innenleben von Gritschs Kosmos eintreten und seine ästhetischen und emotionalen Qualitäten erleben.
Wechselnde Bedeutungen
Gritschs Farbblöcke sind von ganz unterschiedlicher Beschaffenheit. Sie finden sich nicht nur im Kleinformat auf dem erwähnten Ateliertisch, sondern verteilt in fast allen Ausstellungsräumen. Sie sind würfelförmig oder sehen aus wie Kieselsteine, sind gross oder klein. Es gibt Kombinationen unterschiedlich dimensionierter Blöcke, und es gibt Blöcke, die so im Raum angeordnet sind, dass sie uns den Raum neu und anders erleben lassen oder dass sie Innen und Aussen verbinden: Sie markieren einen gradlinigen Weg vom Innern in den zentralen Hof. Mit ihnen lässt sich spielen, im Kleinen wie im Grossen. Stefan Gritsch wird die Arrangements im Lauf der Ausstellung hin und wieder ändern. Wechselnder Kontext kann an wechselnde Bedeutungen denken lassen: Die Dinge und ihr Sinn sind im Fluss.
Einige der Farbobjekte haben eine Form, als seien Schlagringe in sie eingegossen. Tatsächlich benutzt Stefan Gritsch sie als Instrument. Er schlägt sie in einem performativen Akt heftig auf grosse Stücke weissen Papiers, sodass sie Farbspuren hinterlassen: Die Farbe, geschmeidiges, oft lieblich oder gar kitschig aussehendes Material des Malers, verbindet sich hier mit Gewalt und Zuschlagen, was, wie die Nacht-Zeichnung der Libyschen Küstenstädten, an Ambivalenzen und Gegensätze aggressiven Charakters denken lässt.
Auf einer grossen weissen Leinwand ist zu lesen: „Nicolas Poussin: Der Tanz um das Goldene Kalb, 1633–34“. Die Leinwand hat exakt das Format von Poussins so betiteltem Gemälde (National Gallery London). Stefan Gritsch zeigt uns das Kalb nicht, er nennt nur, was der weltbekannte Künstler gemalt hat – und was sich vielleicht auch von Kunst und Kunstmarkt generell sagen liesse. Stefan Gritsch tut das mit selbstironischem Unterton. Auch da überlässt der Künstler uns Betrachtern die Deutung.
Der Blick auf Vögel
Der Franzose Jean-Luc Mylaye (geboren 1946) widmet sich seit Jahrzehnten in aufwändigem Verfahren der Fotografie von Vögeln in der Landschaft. In Aarau ist seine Serie „Herbst im Paradies“ zu sehen, die gleich in mehrfacher Hinsicht verblüfft. Einmal fällt auf, dass das einzelne Bild mehrere Fokussierungen aufweist. Da ist ein Vogel gestochen scharf abgebildet, ebenso ein Baum oder ein Gebäude am Horizont. Anderes bleibt im Unscharfen.
Wie das? Mylaye bedient sich weder der Überblendung noch der Montage oder der (digitalen) Bildmanipulation, sondern einer eigens konstruierten Kamera mit mehreren Linsen. So entsteht das Bild in komplexen, aber stets analogem Verfahren. Unser Auge vermag das nicht. Es kann sich wohl auf verschiedene Dinge im Sichtfeld fokussieren, doch niemals gleichzeitig, sondern nur in zeitlicher Folge. Die verblüffende Werkserie thematisiert und problematisiert so Grundfragen der optischen Wahrnehmung. Sie lässt uns nachdenken über das, was das Auge und was die Fotografie vermag – und damit über Sinn und Zuverlässigkeit jeder Wahrnehmung überhaupt.
Überdies aber zeigen die rund vierzig Bilder die Vögel in der Landschaft so, wie wir sie nie sehen könnten – nämlich „eingefroren“ in jenem „richtigen“ und einmaligen Augenblick, den Mylaye für Komposition, Farbe und Atmosphäre des Bildes für entscheidend und ideal hält. Das führt einerseits zu Bildern von berückender Schönheit, andererseits aber auch zu genauester Planung des ganzen, sich oft über Wochen hinziehenden Vorgehens und auch des Resultates. Der Einmaligkeit des entscheidenden Moments entsprechend, gibt es von diesen Bildern keine Auflagen; sie existieren nur in je einem Exemplar.
Moritz Hossli und die Umkehrung des Gelübdes
Die Oberwalliser Gemeinden Fiesch und Fieschertal fühlten sich im 17. Jahrhundert vom wachsenden Aletschgletscher so sehr bedroht, dass sie mit päpstlicher Erlaubnis ein Gelübde ablegten und jährlich in Bittgängen gegen die Gletscher-Gefahr beteten. Heute ist das Gelübde mit Blick auf den Gletscherschwund hinfällig geworden, und so kehrten die Fiescher das Anliegen kürzlich einfach in sein Gegenteil: Sie baten den Papst, künftig jährlich in Bittgängen gegen den Schwund des Aletschgletschers, der ja auch Touristenattraktion ist, beten zu dürfen.
Moritz Hossli, 1990 geborener Obwaldner Künstler mit bereits beachtlichem Leistungsausweis, entwickelte aus dieser Grundidee das Konzept für seine Ausstellung im Aargauer Kunsthaus im Rahmen der Caravan-Reihe und eröffnete ein weites Reflexionsfeld zu Themen wie Natur und Naturgewalt, Klimaveränderung, Tourismus, Religion, Brauchtum. Er tut das mit Videoaufnahmen von Gletschern und mit Einbezug von Geräuschen, die vom Gletscher ausgehen. Dazu präsentiert er ein Gemälde Caspar Wolfs aus der Aarauer Sammlung. Es zeigt, wie der Rhonegletscher im 18. Jahrhundert bedrohlich bis tief ins Tal vorstiess. Entstanden ist eine vielschichtige und mehrdeutige Installation zu einem brandaktuellen Thema.
Aargauer Kunsthaus Aarau. Bis 11. August. Diverse Veranstaltungen und Führungen. Publikation zu Jean-Luc Mylayne. Die Publikation zu Stefan Gritsch erscheint später.