Von dem im oberfränkischen Wunsiedel geborenen Dichter Jean Paul stammt der Satz: „Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.“ In jungen Jahren hat diese Erkenntnis nicht viel Bedeutung. Woran sollte man sich denn auch erinnern wollen? Mit jedem Jahrzehnt (später schon jedem Jahr), das ins Land geht und dem eigenen Leben seinen Stempel aufdrückt, ändert sich das allerdings. Dann geht der Blick schon häufiger zurück, tauchen vor dem inneren Auge plötzlich Bilder von Orten und Begegnungen auf, werden längst vergessene Erlebnisse wieder wach, vermengen sich nicht selten Nostalgie und Freude mit Wehmut und Trauer. Mitunter vielleicht sogar mit Bitterkeit.
Doch unser Gedächtnis besitzt zum Glück weitaus mehr Speicherraum für das Gute und Schöne als für das Böse und Hässliche. So, als habe die Erinnerung eine Art lebensbejahenden Filter eingebaut, der dafür sorgt, dass selbst im Falle schlimmer Erfahrungen zumeist die Fähigkeit zum Verdrängen und Vergessen die Oberhand behält. Daraus erwächst neuer Lebensmut und auch Kraft, mit Optimismus die Zukunft anzugehen. Noch immer markiert die Weihnachts- und Adventszeit das Datum, an dem viele Menschen tatsächlich das eine oder andere Mal innehalten und die Gedanken schweifen lassen. Obwohl häufig genug im öffentlichen wie im privaten Leben die christliche Feier der Geburt Jesu entweder ganz ausgeblendet oder aber vom kommerziellen Rummel überlagert ist.
Sogar Loriots berühmter Opa Hoppenstedt bemühte ja ebenfalls seine Erinnerung, als er in dem unnachahmlichen Weihnachts-Sketch am Heiligen Abend unter dem Lichterbaum quengelte: „Früher war mehr Lametta.“ Er grummelte nicht, dass früher angeblich alles besser oder gemütlicher gewesen sei, sondern beklagte einfach nur das fehlende Lametta. Also den Schmuck, der – so lange man denken konnte – eigentlich immer das Aussehen der Christbäume prägte. Wie sorgfältig waren die Silberfäden stets über die Tannenzweige gelegt und später (nach dem „Abputzen“ des Baumes) wieder geglättet und in die Aufbewahrungstaschen zurückgelegt worden! Bis zum nächsten Jahr. Die silbern glänzenden Fäden gibt es schon geraume Zeit selbst auf den Weihnachtsmärkten nicht mehr. Sie sind „out“, der Publikumsgeschmack hat sich geändert. Und deshalb musste auch vor drei oder vier Jahren im Sauerland der letzte Hersteller schließen.
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Das eigene Gedächtnis freilich greift deutlich weiter zurück. Und diese Erinnerung ist verknüpft mit viel Schnee und ansonsten ganz wenig. Die Winter nach dem Krieg waren extrem schneereich und bitterkalt. Vor allem in den zerbombten Städten litten die Menschen erbärmlich. Der heute deutlich in den Siebzigern stehende und sein Gedächtnis befragende Autor war 1946 fünf Jahre alt. Der Zeitpunkt hat sich deshalb eingebrannt, weil er mit einem Geschenk verbunden ist. Die älteren Jungens in dem nordhessischen Dorf hatten hölzerne Spielsachen als Weihnachtsgeschenke für die Kleinen gebastelt; keine technischen Kunstwerke, aber handfest und strapazierfähig. Vor der Verteilung hatte ein Traktor mit Anhänger heisse Wünsche geweckt. Tatsächlich aber gab es einen Lastwagen. Der jedoch erwies sich noch lange Zeit als unverwüstlich.
Ein Gang heute über den Weihnachtsmarkt ohne Halt vor einem Mandelröster – unmöglich. Der Duft der kandierten Kerne zieht nahezu magnetisch an. Und doch, merkwürdig. Wieder macht die Erinnerung einen Sprung über sieben Dezennien zurück zu dem damals 6- oder 7-jährigen Bub, der – unter der Anleitung vom Grossvater – eifrig mit dem Hammer auf Pflaumenkerne einschlug, um an das Innere zu kommen. Adventszeit hiess in der Familie selbst in Umständen des Mangels Backzeit. Das wiederum bedeutete Stollenzeit. Und wenn wichtige Zutaten – wie etwa Mandeln – fehlten, musste halt Ersatz her. In diesem Fall Pflaumenkerne. Erst vor kurzem, als diese Geschichte die Runde machte, rief eine Bekannte schreckensbleich, das sei doch hoch gefährlich gewesen wegen der (angeblich) in den „Ersatz-Mandeln“ enthaltenen Blausäure. Keine Ahnung. Alle hatten den Kuchen genossen, und keiner klagte über Probleme.
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Soeben lief die Meldung durch die Nachrichten, dass – einer Umfrage des „Handelsverbands Deutschland“ zufolge – dieses Jahr angeblich im Durchschnitt pro Kopf 472.30 € für Weihnachtsgeschenke ausgegeben würden. 2011 waren es noch 338,90 €. Wohlgemerkt: pro Kopf und im Durchschnitt! Wenn man in diese Summe die Tatsache einfliessen lässt, dass für grosse Gruppen der Bevölkerung solche Summen nicht einmal ansatzweise aufzubringen sind, lässt sich leicht ermessen, in welchen Höhen sich die Weihnachtsausgaben auf der Sonnenseite des Lebens bewegen. Pro Kind werden für Weihnachtsgeschenke – erneut als Durchschnittsmarke – 129 € vorhergesagt. Das stösst nicht überall auf Begeisterung. Für den Erziehungsexperten und Autor Albert Wunsch, beispielsweise, öffnet sich vor dem Hintergrund solcher Eltern-Grosszügigkeit sogar eine „Verwöhnungsfalle“. Wenn Kindern jeder Wunsch erfüllt und jede Unannehmlichkeit ferngehalten werde, nehme man ihnen die Chance zu einem tatsächlich eigenverantwortlichen Leben. Soweit, in deutlicher Sorge, der Fachmann.
Von derartig total unwirklich erscheinenden Verhältnissen wagte in der oben beschriebenen Zeit mit Schnee, Kälte und sonst so gut wie nichts natürlich niemand auch nur zu träumen. Wohl freilich von einem Paar Schlittschuhen. Selbstverständlich gab es keine Eissporthallen. Sogar in Städten wie Göttingen oder Kassel nicht. Aber die Dorfstrassen im kalten Weserbergland waren ja damals nicht mit Salz vermatscht, sondern lediglich von einem einfachen, mit zwei Pferden bespannten Schneepflug von der weiss-pulvrigen Oberfläche befreit worden. Und die darunterliegende, festgefahrene Schicht eignete sich durchaus zum Schlittschuhlaufen. Allerdings litt der Hohlschliff darunter, was sich jedesmal störend bemerkbar machte, wenn der Bach über seine Ufer trat und der anschliessende neue Kälteeinbruch aus den überschwemmten Wiesen wunderbare Eisflächen zauberte. Dann griffen die im Schnee zuvor rundgefahrenen Kufen zumeist nicht mehr, und die kühnen Skater landeten öfter auf den Nasen als ihnen lieb war. Die heiss begehrten Gleiter kamen übrigens von der Firma Hudora; auch das ist komischerweise in den kleinen grauen Zellen des Kopfes hängen geblieben. Die Schlittschuhe wurden natürlich an den normalen Strassentretern befestigt. Das war einerseits praktisch. Es hatte indes den Nachteil, dass häufig hinterher die Absätze fehlten – abgerissen.
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1952 lag dann der erste Band Karl May unter dem Weihnachtbaum, „Winnetou II“. Das Jahr lässt sich am Erscheinungsdatum im Klappentext ablesen. Es spielte später keine Rolle zu erfahren, dass der phantasiebegabte Sachse die so spannend beschriebenen Abenteuer nur erfunden hatte. Wichtiger war, dass die Lektüre bei dem kleinen Jungen jene Neugier und Reiselust weckte, die er später – zum Glück – beruflich befriedigen konnte.
Es muss im Jahr davor gewesen sein, als auf dem Wunschzettel „Eisenbahn“ stand. Natürlich nicht mit dem Zusatz „Märklin“ oder „Trix“. In der Vorstellung war ein ganz einfaches Gefährt mit Lok, Tender und drei Waggons, von einem Federwerk angetrieben und immer nur im Kreis herumfahrend. Und tatsächlich, am Ersten Weihnachtstag (wir stammten aus Böhmen, und im Egerland wurde am 25. Dezember beschert) lag auf dem Gabentisch ein Karton mit eben dieser Eisenbahn. Die Sehnsucht danach hatte die Sinne des Jungen derartig beschäftigt, dass er das eigentliche, wertvolle Geschenk zunächst gar nicht wahrnahm: ein Fahrrad mit 24-er Rädern.
Dann war da noch die Geschichte mit dem Spielzeug-Bauernhof und dem Kaufladen. Aus irgendeinem unbekannten Grund hatten diese beiden doch ziemlich sperrigen Gegenstände die Kontrollen vor dem Beladen des Vertreibungs-Transportzugs passiert. Und nun gehörten sie lange Jahre zu den Traditions-Weihnachtsgeschenken. Immer bis Ende Februar, dann waren sie wieder verschwunden und wurden unter Grossvaters geschickten Händen ausgebessert und mit neuem Glanz versehen. Dass sie mit einem Mal nicht mehr zum Spielen zur Verfügung standen, wurde nicht als schlimm empfunden; nach mehrwöchiger intensiver Benutzung hatten sie zunächst wieder ihren Reiz verloren.
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Und jedes Jahr Schnee. Viel Schnee. Und Kälte. In der ersten zugewiesenen Wohnung nach Vertreibung und Ankunft in dem nordhessischen Dorf gab es kein fliessendes Wasser; es musste mit Eimern von einer vielleicht 150 Meter entfernten Pumpe geholt werden. Und diese war oft zugefroren.
Oder trügen Erinnerung und Gedächtnis am Ende? Hat der „Filter“ nur Teile der einstigen Wirklichkeit durchgelassen? Es sind tatsächlich im Grunde nur angenehme Erinnerungen, obgleich die Zeiten sehr hart waren. Zu Beginn der Fünfzigerjahre betrug der durchschnittliche Wochenlohn eines Facharbeiters 50 D-Mark – sofern er überhaupt in Arbeit, Lohn und Brot stand. Und für Organisationen, die statistisch „relative“ und “tatsächliche” Armut errechnen, gab es noch keinen Platz. Dafür aber (besonders in den Städten) überall Kriegsinvalide und Menschen mit Schildern in den Händen oder am Rücken befestigt und der Aufschrift „Übernehme jede Arbeit“. Die Weihnachtszeit bildete da keine Ausnahme.
Und doch hat Jean Paul Recht mit seiner Weisheit „Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können“. Denn die Erinnerung weigert sich glücklicherweise hartnäckig, die schönen Dinge im Leben auszublenden.