Man muss schon ein grosser Optimist sein, um dem umstrittenen Steuerabkommen zwischen der Schweiz und Deutschland doch noch eine Überlebenschance einzuräumen. Nachdem die (mittlerweile von Sozialdemokraten und Grünen geführte) Mehrheit der deutschen Bundesländer im Bundesrat die zwischen den Regierungen in Berlin und Bern ohnehin mühsam genug ausgehandelte Übereinkunft scheitern liess, würde es schon einem Wunder gleichkommen, wenn der nun angerufene Vermittlungsausschuss aus Bundestag und Länderkammer doch noch den finanz- und rechtspolitischen Stein der Weisen fände – eine Lösung also, die am Ende für beide Seiten akzeptabel wäre. Zu verfahren ist die Geschichte, zu festgefahren sind die Positionen der Streitparteien. Zumal der Deal vom schweizerischen Parlament ja bereits ratifiziert wurde. Umgekehrt stehen im „grossen Kanton“ Land- und Bundestagswahlen an.
In einer solchen Situation ist es für Bürger und Politiker gleichermassen nicht immer leicht, kühlen (und vor allem klaren) Kopf zu bewahren. Da geraten nördlich von Basel bei nicht wenigen Zeitgenossen manchmal auch schon eigentlich als gesichert geglaubte Rechtspositionen ins Wanken, wenn sie in Konflikt geraten mit dem Gerechtigkeitsgefühl. Das ist zum Beispiel der Fall bei der Diskussion über den staatlichen Ankauf gestohlener Bankdaten aus der Schweiz. Keine Zweifel – die meisten Befragten lehnen es (in der Theorie) strikt ab, dass Behörden mit Kriminellen Geschäfte machen. Aber („Nur in diesem speziellen Fall!“) heiligt wiederum für viele der Zweck doch die Mittel, weil man eben nicht akzeptieren möchte, dass eine bestimmte Kaste ohnehin Privilegierter sich durch Steuerflucht noch zusätzlich belohnen kann.
„Neidkomplex“ trifft zu kurz
Diese Gefühle, wie es oft geschieht, einfach als „Neidkomplex“ zu diffamieren, ist ganz gewiss ungerecht all jenen (auch Gutverdienern) gegenüber, die treu und brav regelmässig dem Finanzamt ihre Steuererklärung abgeben. Insofern ist die öffentliche Debatte über das deutsch-schweizerische Steuerabkommen und dessen Scheitern auch keine simple Auseinandersetzung zwischen „Links-Grün“ und „Rechts-Liberal“. Sondern sie geht – wenn man von den SED-Jüngern „Linke“ absieht – quer durch das politische Spektrum. Das wird zum Beispiel deutlich daran, dass der grüne baden-württembergische Ministerpräsident Wilfried Kretschmann sich sehr schwer getan hat, die Vereinbarung im Bundesrat (wegen seines sozialdemokratischen Koalitionspartners) doch abzulehnen. Im Grunde lag ihm das gute Verhältnis zum Nachbarn im Süden stark am Herzen. Da ist sich der Grüne Schwabe, ohne Frage, mit dem badischen (christdemokratischen) Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble einig. Ganz abgesehen von dem Geld, das ihm nun entgeht.
Dass solche „Feinheiten“ im oft mit protzig-hemdsärmeligen Rempeleien geführten Krach um die steuerflüchtigen Penunzen untergehen, hat in Deutschland gewiss mit den anstehenden Wahlkämpfen zu tun. Denn dass es im kommenden Jahr um tatsächliche Richtungsentscheidungen geht, steht ausser Frage. Zurzeit ist nahezu alles offen. Die (hegt sie sie wirklich noch?) Hoffnung von Angela Merkel auf eine Fortsetzung der nun wirklich nicht gerade Attraktivität verströmenden Koalition mit der FDP ist genau so fragil, wie es die Träume der Parteispitzen von SPD und Grünen von einem Machtwechsel sind. Genauso denkbar ist am Ende ein von den Wählern erzwungenes neues Bündnis von Christ- und Sozialdemokraten, was – angesichts mancher finanz-, wirtschafts- und sozialpolitischer Rochaden der „Schwarzen“ in der Vergangenheit - durchaus im Bereich realistischer Vorstellungen wäre. Dazu allerdings müsste die SPD dann eine neue Spitzenfigur küren. Denn ihr jetziger designierter Frontmann, der in der Schweiz „hoch geschätzte“ Peer Steinbrück, hat wiederholt angekündigt, nicht ein zweites Mal in einem Kabinett Merkel Dienst tun zu wollen.
Das Beispiel Amerika
Ob und wie stark der Komplex Steuerflucht, Schweiz, geplatztes Abkommen über die aktuelle Aufregung hinaus in den bevorstehenden politischen Auseinandersetzungen eine Rolle spielen wird, ist noch nicht absehbar. Wahrscheinlich werden SPD und Grüne versuchen, das Thema zumindest am Köcheln zu halten. Und zwar in zweifacher Richtung. Zum einen können die dem heimischen Fiskus entzogenen und ins Ausland geschafften Steuermilliarden trefflich als entgangene Finanzierungsmöglichkeit dringend erforderlicher oder auch nur wünschbarer Sozialleistungen beziffert werden. Und zum anderen kann man etwa mit Hinweis auf die USA der jetzigen Bundesregierung mangelnde Verhandlungshärte gegenüber der Schweiz vorhalten. Also darauf verweisen, dass die Berner Regierung bei einem ähnlichen Sachverhalt der Steuerflucht amerikanischem Druck durchaus nachgegeben habe.
Ob das jedoch ausreicht, um eine wirkliche politische Kampagne loszutreten, erscheint zweifelhaft. In der Öffentlichkeit, auf der Strasse, spielt der Steuerstreit mit der Schweiz eine erstaunlich geringe Rolle. Und das nicht erst jetzt. Auch in der Vergangenheit ist das Thema immer nur dann virulent geworden, wenn es um konkrete Vorgänge ging – um den Ankauf von CDs mit gestohlenen Steuerdaten etwa. Oder um die medial gross begleitete Festnahme des der Steuerhinterziehung überführten damaligen Chefs der Deutschen Post, Klaus Zumwinkel. Sehr viel stärker brennt den Menschen ganz offensichtlich die Sorge um die Zukunft des Euro und der EU insgesamt auf den Nägeln. Dies in Verbindung mit einem unübersehbaren Anwachsen nationalistischer Strömungen in mehr als nur einem Mitgliedsland. Die Demonstrationen in Athen, Rom und Madrid mit anti-deutschen Bildern und Merkel mit Hitler-Bart, der Vorwurf nicht nur von IWF-Präsidentin Christine Lagarde, die deutsche Wirtschaft boome auf dem Rücken der EU-Partner – dies alles vor dem Hintergrund der Gefahr einer aussenpolitischen Isolierung, dürfte die bevorstehenden Auseinandersetzungen in Berlin und in den einzelnen Bundesländern eigentlich weitaus stärker beherrschen. Mit dem Scheitern des Steuerabkommens wird die Welt weder in der Schweiz noch in Deutschland gewiss nicht untergehen.