Die Moderatoren im Mittagsmagazin des israelischen Rundfunks zeigten sich am Dienstag zum Ende der Sendung demonstrativ überrascht: Nun habe man in der Sendung so viele Themen behandelt, das einzige aber, das man bereits seit Wochen als beherrschendes Thema am Vorabend des 1. Juli betrachtet hatte, sei überhaupt nicht vorgekommen.
Da schwang nicht etwa eine Spur von Wehmut oder Bedauern mit, sondern eher eine Mischung von Überraschung und Erleichterung. Aber auch ein gehöriges Mass an Ratlosigkeit – wie auch bei diesem Autoren, der die Entwicklungen in der Region immerhin schon seit über einem halben Jahrhundert verfolgt und dabei trotzdem immer wieder von unerwarteten Entwicklungen überrascht wird.
Der Annexionsplan
Den 1. Juli nämlich hatte Ministerpräsident Netanjahu zum Auftakt einer Massnahme erkoren und proklamiert, die geeignet ist, Israel und den Nahen Osten in eine Gewalteskalation unabsehbaren Ausmasses zu stürzen: Er wolle „die israelische Souveränität auf rund dreissig Prozent des Westjordanlandes ausweiten“.
Im Klartext: Israel habe vor, ein knappes Drittel der Gebiete zu annektieren, die es vor 53 Jahren im Sechstagekrieg des Juni 1967 erobert hatte und die seitdem unter israelischer Militärverwaltung – sprich: Besatzung – stehen. Der Teilungsplan der Vereinten Nationen von 1947 hatte vorgesehen, dass vor allem in diesen Gebieten ein arabischer neben dem jüdischen Staat Israel entstehen solle. Daraus wurde nichts: Zunächst wegen der radikalen Ablehnung Israels durch die meisten Palästinenser und Araber insgesamt. Seit den ersten Friedensverträgen Israels (mit Ägypten und Jordanien) und dem „Oslo-Abkommen“ mit der PLO aber begann die Zahl derer in Israel zu wachsen, die solchen Entwicklungen einen Riegel vorschieben wollen:
Je mehr Israel sich mit den Palästinensern und anderen Arabern verständige, desto eher werde es auf zumindest Teile der seit 1967 besetzten Gebiete verzichten müssen – obwohl diese doch unveräusserlicher „Teil des biblischen Landes Israel“ („Eretz Israel“) seien. Das ist nicht nur die Meinung der erklärt rechten und nationalistischen Kreise, sondern auch breiter Kreise der Bevölkerung, die immer noch glauben, dass die Verhinderung eines palästinensischen Staates beste Garantie für die Sicherheit Israels ist, und die deswegen immer wieder die Maximalisten unter Netanjahu wählten. Selbst wenn es diesem in letzter Zeit immer schwerer fiel, solch ein Votum in eine starke Mehrheitsregierung umzusetzen.
Netanjahu scheint dies nicht – oder nicht rechtzeitig – erkannt zu haben. Sonst hätte er die Annexionsfrage wohl kaum so prominent auszuspielen versucht. Er erhoffte sich damit aber offenbar auch eine Lösung verschiedener persönlicher Probleme. Allen voran der inzwischen eröffnete Korruptionsprozess, bei dem Netanjahus „Aktien“ nicht gerade gut stehen. Dann in hohem Mass die Sorge Netanjahus, welche Rolle er einst in den Geschichtsbüchern spielen werde: Von der Justiz aus dem Amt getrieben oder als Betreiber der Annexion ein „Vater des biblischen Landes Israel“?
Umstrittene Details
Dabei hat Netanjahu sich allerdings auch zu allzu forschem Vorgehen verleiten lassen: Ermutigt durch die nahezu vorbehaltlose Unterstützung durch Donald Trump und dessen Äusserung vor Monaten, eine Annexion der Gegenden von jüdischen Siedlungen im Westjordanland sei in Ordnung, übersah Netanjahu offenbar, dass der amerikanische Wähler von solchen Sprüchen Trumps kaum beeindruckt sein dürfte, im Gegensatz aber vom Versagen Trumps in so wichtigen Fragen wie der Corona-Pandemie oder der heftigen Auseinandersetzung über Rassismus in den USA.
Und er scheint übersehen zu haben, dass Corona ihm selbst auch noch mehr zu schaffen machen dürfte als zunächst angenommen. So hat er zwar demonstrativ eine „Anti-Corona-Koalition“ mit dem bisherigen Führer der Opposition, Benny Gantz, gebildet und sich eingebildet, Gantz damit ausser Gefecht gesetzt zu haben. Auf den ersten Blick sicher richtig, aber Gantz hat sich im Koalitionsabkommen Rechte zusagen lassen, gegen die Netanjahu machtlos ist: So besteht Gantz darauf, dass eine Annexion mit den USA, den Palästinensern und Staaten in und ausserhalb der Region ausgehandelt werden müsse.
Am Tag vor dem 1. Juli gab es tatsächlich ein Treffen zwischen Netanjahu und dem US-Botschafter in Israel, mit dem Ergebnis allerdings gemäss Netanjahu: „Wir werden weiter verhandeln.“ Wobei die Europäer bereits klargestellt haben, dass sie gegen den Annexionsplan sind. Auch die arabischen Ölstaaten beginnen zu bezweifeln, dass dieses Israel ein Partner werden kann.
Gantz schliesslich liess wissen, dass es gegenwärtig in Israel wichtigere Probleme gebe. Zum Beispiel die Antwort auf die zweite Corona-Welle. Gleichzeitig wurde aber auch bekannt, dass Gantz weder in Jordanien vorsprechen konnte noch bei Palästinenserpräsident Abbas in Ramallah. Offenbar weiss man an beiden Orten, dass mit Gantz kein Staat zu machen ist. Da nützt es diesem auch nicht, dass er sagt: Palästinenser, die nach einer Annexion in einem Gebiet mit israelischer Souveränität leben, würden dort „wie Israelis“ behandelt. Solch eine Zusage dürfte kaum einen Palästinenser umstimmen. Umso mehr, als Netanjahu umgehend dementierte: Palästinenser unter israelischer Souveränität würden nicht die israelische Staatsangehörigkeit erhalten.
Netanjahu ist es sicher Ernst damit. Denn er fühlt sich immer noch voll im Recht. Wie sonst wäre zu erklären, dass er – auch am Tag vor dem 1. Juli – in die Schlagzeilen geriet, weil er einen Antrag stellte, von einem „Freund“ – in Wirklichkeit ein verwandter Geschäftspartner in den USA – Unterstützung in Höhe von 100 Millionen israelische Schekel (ca. 26 Millionen Euro) erhalten zu können, um seine Ausgaben wegen des Prozesses abzudecken. Der Oberstaatsanwalt lehnte ab. Er ist derselbe, der es zum Prozess kommen liess.