Gegen die beiden Hauptkandidaten wurde vor Gericht Einsprache erhoben. Jetzt müssen die Gerichte entscheiden, ob sie überhaupt kandidieren können. Die beiden wichtigsten Kandidaten sind einerseits der frühere Geheimdienstchef Mubaraks, Omar Solaiman, und anderseits sein Gegenspieler aus der Partei der Muslimbrüder, Khairat al-Shatir.
Wenn sie kandidieren können, wird sich das Rennen primär um sie drehen. Sein Ausgang wird entscheiden, ob Ägypten Chancen erhält, eine echte Demokratie zu werden, oder ob das Land weiterhin, wie unter Mubarak, eine Scheindemokratie bleibt. Wobei im Falle der Scheindemokratie weitere Volkserhebungen wahrscheinlich wären.
Unübersichtliche Übergangsregelung
Das Land befindet sich jetzt in einer Art konstitutioneller Krise. Die Grundregeln, unter denen der Übergang zu einem neuen Regime erfolgen sollte, sind dermassen unvollständig und zweideutig, dass nun, wo es um die entscheidenden Fragen geht, die Gerichte angerufen werden müssen. Sie müssen dort Lösungen finden, wo die bestehende Übergangsregelung unterschiedliche Interpretationen zulässt.
Es gibt gegenwärtig zwei offene Fragen, die sich je auf einen der mutmasslichen Hauptkandidaten beziehen. Der Muslimbruder Khairat al-Shater ist erst im vergangenen März aus dem Gefängnis entlassen worden. Ein Militärgericht aus der Mubarak-Zeit hatte ihn zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Er war aber im März zusammen mit zwölf anderen politischen Gefangenen aus der Bruderschaft von den nun herrschenden Militärspitzen (SCAF) begnadigt und aus der Gefangenschaft entlassen worden.
Präsidentschaftskandidat oder Sträfling?
Die Frage ist, ob eine solche Begnadigung seine Verurteilung annulliert oder nicht. Das ist wichtig, denn ein zu Gefängnisstrafe verurteilter "Verbrecher" kann nicht Präsident werden. Dies bestimmt die Verfassung aus der Mubarak-Zeit, die von den SCAF-Militärs zwar in einigen Abschnitten umgeschrieben wurde, in den anderen, die nicht geändert wurden, jedoch ihre Geltung behält, bis dass eine neue Verfassung geschrieben und vom Volk gebilligt wird.
Khairat al-Shatir, der Kandidat der Musblimbrüder, hat gute Chancen, die Wahlen zu gewinnen, falls seine Kandidatur gilt. Die Partei hat jedoch auch vorsichtshalber einen zweiten Kandidaten aufgestellt. Er ist der oberste Chef der Muslimbruderschaft, ihr "Oberster Führer", wie man ihn offiziell nennt: Mohammed Badie. Dies zeigt, dass die Bruderschaft mit der Möglichkeit rechnet, dass ihr Hauptkandidat nicht zugelassen werden könnte, weil die Gerichte, die darüber angerufen worden sind, ihn vielleicht seiner Strafe halber für ausgeschlossen erklären.
Zehn Jahre Polit-Verbot für Solaiman
Die zweite Ungewissheit betrifft General Omar Solaiman, den Geheimdienstmann, den die Armeespitzen als ihren Mann fördern. Auch er könnte die Wahlen gewinnen, allerdings nach Ansicht der meisten Beobachter nur, wenn diese von den militärischen Machthabern und ihren politischen und administrativen Handlangern gefälscht werden. Derartige Fälschungen kann man, so wie die Dinge liegen, nicht ausschliessen, obwohl natürlich die Sprecher der Militärmachthaber erklären, diese seien "völlig neutral".
Weil die Gefahr von Fälschungen droht, hat das neugewählte ägyptische Parlament einstimmig ein Gesetz verabschiedet, das den ehemaligen Ministerpräsidenten und Vizepräsidenten Mubaraks zehn Jahre Politverbot auferlegt. Solaiman war kurze Zeit lang Mubaraks Vizepräsident, und zwar kurz vor dessen Rücktritt. Er könnte also nach dem neuen Gesetz, das in erster Linie auf seine Person zielt, nicht kandidieren.
Kann das Parlament Gesetze verabschieden?
Doch ist das Gesetz, das Solaiman ein Politverbot auferlegt, gültig? Das Parlament sagt Ja. Doch andere sagen, ein Gesetz sei erst gültig, wenn es vom Präsidenten unterschrieben worden sei. Dies würden die noch gültigen Teile der Mubarak-Verfassung vorsehen. Die Militärspitzen verfügten gegenwärtig (noch) über die Kompetenzen des Präsidenten. Ohne ihre Unterschrift gelte das Gesetz also nicht. Unterschreiben werden sie nicht. Also könne "ihr" Kandidat kandidieren.
Auch darüber müssen die Gerichte urteilen. Und sie nehmen sich Zeit. Einsprüche gegen die Gerichtsentscheide wären möglich. Dann würde noch mehr Zeit bis zu einem gültigen Entscheid verstreichen. Doch die Wahlen sollen am 23. Mai beginnen. Wenn eine Stichwahl nötig wäre, würde diese am 7. Juni stattfinden.
Umstrittene Verfassungskommission
Die Parlamentsmehrheit der Salafisten und Muslimbrüder hat bereits eine erste Runde vor den Gerichten verloren. Das oberste Verwaltungsgericht hat sich gegen die Zusammensetzung der 100-köpfigen Verfassungskommission ausgesprochen. Die Mitglieder der Kommission waren von der Parlamentsmehrheit bestimmt worden. Die säkularen Minderheitsparteien waren in ihr vertreten, doch ihrer Ansicht nach in völlig ungenügendem Masse. Sie argumentierten, die Kommission sei einseitig von den Islamisten und ihren Freunden und Sympathisanten dominiert. Aus Protest hatten die säkularen Parteien ihre Vertreter aus der Kommission zurückgezogen.
Wie neu ernennen, wenn nicht durch die Mehrheit?
Das Gericht gab ihnen recht und befand ebenfalls, die Zusammensetzung der Kommission entspreche nicht der Vielfalt der ägyptischen Gesellschaft. Das Gericht ordnete ihre Stilllegung an. Doch nach welchen Regeln soll jetzt eine neue Kommission gebildet werden? Dazu äusserte sich das Verwaltungsgericht nicht, was ja auch nicht seine Aufgabe ist. Es wird anerkannt, dass das neu gewählte Parlament die Kommission bilden soll. Doch wie soll das geschehen, wenn die Richter nicht akzeptieren, dass die Mehrheitsparteien im Parlament die Kommission zusammensetzen? Wozu dient da das Parlament noch?
Die Verfassung lässt auf sich warten
Zunächst bedeutet der Gerichtsentscheid, dass Ägypten keine Verfassungsversammlung haben wird, und dass eine solche zu bilden, noch viel Zeit in Anspruch nehmen und heisse Diskussionen auslösen wird. Was auch bedeuten dürfte, dass die Verfassung mit noch geringerer Wahrscheinlichkeit vor der Präsidentenwahl verabschiedet wird.
Präsident mit provisorischer Machtbefugnis
Also wird ein Präsident gewählt werden, dessen Machtbefugnisse im besten Fall provisorisch sein werden, bis die neue Verfassung da ist. In der Praxis würde dies wohl bedeuten, dass er alle Vollmachten hätte, die Mubarak hatte. Einzige Ausnahme wären die wenigen Änderungen, die der Militärrat nach seiner Machtübernahme verordnet hatte und die teilweise, aber nur teilweise, durch Volksentscheide bestätigt wurden.
Die so entstandenen Verfassungswirren schaden dem Parlament. Es muss in einer Art Vakuum agieren und bleibt deshalb wirkungslos. Dieses Vakuum nützt der Offiziersführung, wenn man annimmt, deren Ziel sei es, an der Macht zu bleiben, bis sie ihre zentralen Anliegen durchgesetzt haben.
Schlauheit oder Unfähigkeit von SCAF?
Angesichts dieser Sachlage kann man sich fragen: Wurde die heutige Situation von den herrschenden Offizieren bewusst herbeigeführt? Oder ist sie gewissermassen durch Zufall entstanden, weil die herrschenden Offiziere nicht in der Lage waren, klare Regeln aufzustellen, die einen Übergang zur Demokratie ermöglich hätten.
Im ersten Fall müsste man den Offizieren grosses taktisches, ja strategisches Geschick zuzuerkennen. Im zweiten Fall wäre die heutige Lage mehr ein Resultat ihrer Unfähigkeit.
Eine dritte Erklärung
Doch wer den wackeligen Verlauf der bis jetzt fast anderthalbjährigen Übergangsperiode im Detail verfolgt hat, tendiert vielleicht zu einer dritten Erklärung. Es könnte sein, dass die herrschenden Militärs viel improvisierten und Teilentscheid um Teilentscheid fällten – immer jedoch ihre eigenen Geld- und Machtinteressen im Auge behaltend.