Das russische Aussenministerium hat den Text des Übereinkommens veröffentlicht, das Russland, die Türkei und Iran am 4. Mai in Astana unterzeichnet haben. Es sieht die Schaffung von vier „Deeskalationszonen“ in Syrien vor.
Sie sollen in den vier Regionen geschaffen werden, in denen es Kämpfe zwischen der syrischen Regierungsarmee und den Rebellengruppen gibt - jedoch nicht in jenen Teilen Syriens, in denen der „Islamische Staat“ (IS) die Macht ausübt. Auch von den Gebieten, die von syrischen Kurden beherrscht werden, ist nicht die Rede.
Die vier Zonen sind:
- Idlib und Umgebung (das grösste Gebiet);
- kleine Teile der Provinz Homs;
- die östlichen Teile der Umgebung von Damaskus (Ost-Ghouta genannt);
- Teile der südlichen Provinzen nah an der jordanischen Grenze und an den von Israel besetzten Golan-Höhen.
Weiterhin Kampf gegen den IS und al-Kaida
Die Verträge sehen die Bildung von „Joint Working Groups“ (JWG) vor, in denen Vertreter der unterzeichnenden Staaten Einsitz nehmen. Diese Arbeitsgruppen sollen in den kommenden 14 Tagen gebildet werden. Sie sollen dann innerhalb von vier Wochen die Karten mit den Gebieten der vorgesehenen vier „Deeskalationszonen“ ausarbeiten. Innerhalb dieses Monats sollen sie auch bestimmen, welche Rebellengruppen in den Genuss der „Deeskalation“ kommen – und welche weiter bekämpft werden sollen.
Von der „Deeskalation“ ausgenommen sind der IS und alle mit al-Kaida assoziierten Gruppen. Als Kaida-nahestehend werden die „Nusra-Front und andere Gruppen“ bezeichnet – so, wie sie der Sicherheitsrat der Uno definiert hatte.
Die Nusra-Front hat ihren Namen und ihre Zusammensetzung mehrmals geändert. Zurzeit nennt sie sich lose „Entität zur Befreiung von Sham“ (wobei man das Wort „Sham“ entweder mit „Syrien“ oder, weiter gefasst, mit „die Levante“ übersetzen kann. Der Begriff „Levante“ schliesst Israel und Palästina mit ein).
Humanitäre Hilfe
Die Joint Working Groups sollen auch jene Rebellengruppen in den geplanten Sicherheitszonen aufnehmen können, die sich nachträglich der „Deeskalation“ anschliessen wollen. Die „Verwaltung“ der „Deeskalations-Gebiete“ sollen ebenfalls die Working Groups übernehmen.
In den Deeskalationszonen soll dafür gesorgt werden, dass humanitäre Hilfe geleistet werden kann und dass die Grundversorgung mit Wasser und Elektrizität wieder hergestellt wird. Flüchtlinge, die es wollen, sollen in diese Zonen zurückkehren können.
Skepsis
Das Abkommen gilt für sechs Monate und kann weiter verlängert werden. Unterzeichner der Übereinkunft sind nur Russland, die Türkei und Iran - nicht aber die anderen Kriegsparteien, wie die syrische Regierung und die zahlreichen Widerstandsgruppen. Auch die USA und Saudi-Arabien sind nicht in den Vertrag eingebunden.
Die Türkei stimmt dem Abkommen zu, weil die Frage der syrischen Kurden unerwähnt bleibt. Die Türkei hat also in den syrischen Kurdengebieten freie Hand, soweit es die USA zulassen. Die Amerikaner gelten als Hauptverbündete der syrischen Kurden.
Die Russen haben mündlich erklärt, es scheine, dass die syrische Regierung und die Amerikaner dem Abkommen zustimmen. Doch sowohl die USA als auch die Asad-Regierung und die Verhandlungsgruppe der Rebellen haben sich in Astana skeptisch gezeigt.
- Die Gegner des Asad-Regimes wehren sich gegen eine Einbindung Irans in die Astana-Bemühungen. Iran unterstützt die syrische Regierung und hat Kampftruppen und Berater in Syrien stationiert.
- Die syrische Regierung betont ihrerseits, sie werde weiterhin gegen alle „Terroristen“ kämpfen, und man weiss, dass sie alle Rebellengruppen als Terroristen betrachtet.
- Die Rebellen ihrerseits unterstreichen, dass das Abkommen keine Garantien für die Einhaltung eines Waffenstillstandes ist, der in dem Vertrag vorgesehen ist. Sie weisen darauf hin, dass alle früheren Waffenstillstände gebrochen wurden.
„Gute und böse“ Rebellen
Das Astana-Abkommen bedeutet für die Working Groups eine Sisyphus-Arbeit, da es zahlreiche schwierige Details zu organisieren und durchzusetzen gilt. Besonders schwierig dürfte die Trennung der Rebellengruppen „in gute und böse“ sein: also in jene, die in den Genuss der Deeskalation kommen sollen und jene, denen weiter der Krieg erklärt wird.
Im Falle des „Islamischen Staats“ ist dies möglich, weil der IS sich mit keiner anderen Rebellengruppe zusammengeschlossen hat. Er operiert auch nicht im Verbund mit anderen - ausser möglicherweise in Südsyrien. Dort gibt es Gruppen, die „heimlich“ dem IS zuneigen.
Doch die einstige Nusra-Front hat alles getan, um ihre Zusammenarbeit und Verschmelzung mit anderen Widerstandsgruppen zu fördern. Auch ihre Namensänderungen dienten diesem Ziel. Es wird kaum möglich sein, die Nusra-Front von ihren Mitkämpfern zu trennen. Oder nur, wenn sich diese Mitkämpfer von der Nusra lossagen und trennen. Dann allerdings würden sie wohl auf blutigen Widerstand der Front stossen.
Wer verwaltet die „Deeskalations-Gebiete“?
Dass die Working Groups die Verwaltung der Deeskalationszonen übernehmen sollen, wird in dem Vertrag nur mit einem Satz ganz nebenbei festgehalten. Putin wurde zu diesem Thema von Journalisten befragt. Er sagt, die Bestimmungen im Zusammenhang mit der künftigen Verwaltung der geplanten Zonen seien noch auszuhandeln. Der Vertrag selbst legt ausdrücklich fest, dass es sich bei der geplanten Bildung von Deeskalations-Gebieten um zeitlich beschränkte Massnahmen handle, und dass die territoriale Einheit Syriens gewahrt werden müsse.
Für die Rebellengruppen in den Deeskalations-Gebieten ist die Frage der Verwaltung dieser Gebiete entscheidend. Wenn sie letztlich von Damaskus ausgeübt wird, haben die Rebellen damit zu rechnen, dass sie von den syrischen Geheimdiensten verfolgt, eingekerkert und aller Wahrscheinlichkeit nach zu Tode gefoltert werden.
Was geschieht nach der „Deeskalation“?
Aus dem veröffentlichten Text des Vertrages, der als ein Memorandum bezeichnet wird, geht hervor, dass die eigentliche Arbeit noch bevorsteht. Sollten die festgelegten Schritte des Übereinkommens verwirklicht werden können, müsste eine politische Phase folgen. Dann müsste entschieden werden, ob und in welcher Art die Rebellengruppen ein Mitspracherecht bei der Gestaltung der Zukunft hätten: sowohl der Zukunft der „Deeskalations-Gebiete“ als auch der Zukunft Syriens.
Gegenwärtig befinden sich die Rebellengruppen noch im Besitz „ihrer“ Widerstandszonen, die allerdings immer häufiger bombardiert werden.
Wenn Rebellen-Gruppen sich nicht den Astana-Abmachungen unterwerfen und damit kein Mitspracherecht erhalten, werden sie vor die Wahl gestellt:
- Entweder gestehen sie ihre Niederlage ein und liefern sich auf Gedeih und Verderbt der Gnade oder Rache Damaskus’ aus,
- oder sie beginnen den Krieg erneut. Doch den Krieg neu zu beginnen wird ihnen schwerfallen, weil sie durch die „Deeskalation“ geschwächt sein werden. Ihre Geldgeber und Waffenlieferanten werden nach einer längeren Pause der Deeskalation schwerlich bereit sein, ihnen wie bisher zu helfen.