Im erotischen Angebot bilden Küsse auch in der Opernwelt eine wesentliche Entwicklungsstufe von Liebesbeziehungen, die zu tragischen oder zu glücklichen Ereignissen führen kann.
Opernliebende kennen vor allem die Küsse aus Verdis «Otello», die aus Shakespeares Theaterstück «Othello» optimal in ein Libretto umgeformte Textvorlage von Arrigo Boito für Verdis letzte Tragödie. Zwei Kussszenen gibt es da, am Ende des 1. Aktes die ekstatische Liebesszene, am Ende des 4. Aktes Otellos Todesszene, in denen jeweils ein Männerwunsch einer geliebten Frau gegenüber zum Ausdruck kommt: eines vom Glück überströmten und eines durch Eifersucht zerstörten Wesens, der noch in seiner Todesstunde nur noch einen Wunsch hat: «Un bacio, un bacio ancora, un altro bacio!»
Im Opernreich kommen viele Küsse vor, enthusiastisch spontane wie geplante und strategische. Wiedersehensküsse, Abschiedsküsse, sogar Küsse aus Trauer und aus Hilfslosigkeit, so wie Gläubige ihre Ikonen küssen, aus Verehrung, Dankbarkeit oder um etwas damit zu erwirken. In der Kultur- und Literaturgeschichte gibt es dafür anerkannte Experten. Ich nenne zwei davon: für die Osculologie – wie die Wissenschaft vom Küssen sich vornehm nennt – in der weiten Kulturwissenschaft ist es Otto F. Best in seiner Untersuchung «Die Sprache der Küsse» im Verlag Koehler & Amelang (2001), für die Literaturwissenschaft ist es Peter von Matt in seinem Buch «Sieben Küsse» im Hanser Verlag (2017). Niemand wird auch unter Musikfreunden bestreiten, dass Küssen eine die Menschen anhaltend befeuernde Angelegenheit ist und bleibt.
Smetanas «Der Kuss»
Der tschechische Komponist Bedřich Smetana (1824–1884), bekannt durch den Zyklus symphonischer Dichtungen «Mein Vaterland» sowie durch seine weltweit gespielte komische Oper «Die verkaufte Braut», ertaubte innerhalb eines Jahres so radikal, dass er Ende 1874 seine Tätigkeit als Dirigent am Prager Nationaltheater aufgeben musste. Obwohl auch er wie im Fall des vergleichbaren Schicksals von Beethoven als Komponist weiter tätig blieb – der grösste Teil von «Mein Vaterland» sowie sein Meisterwerk der Kammermusik, das Streichquartett «Aus meinem Leben» – entstanden erst nach dem Eintreten der Taubheit, wie auch seine letzten drei Opern. Der Abschluss seines Lebens war noch in anderer Hinsicht leidvoll. Aus Sparsamkeitsgründen zog Smetana mit seiner Frau, die das Luxusleben an der Seite des Musikdirektors eines Nationaltheaters gewohnt war, zu einer verheirateten Tochter aufs Land, wo seine Ehefrau ihm mit Vorwürfen und Nörgeleien das Leben verbitterte.
Zu seinen glücklicheren Momenten dieser Jahre der Taubheit gehört die Phase, in welcher die Schriftstellerin und Übersetzerin Eliška Krásnohorská versuchte, dem störrisch sie zunächst abwimmelnden Mann ein von ihr verfasstes neues Libretto schmackhaft zu machen. Das gelang ihr zwar nicht auf Anhieb, doch nachdem sie ihm das gesamte Libretto vorgelegt hatte, fing er auf einmal Feuer für die Arbeit an dieser tragisch-komischen Landburleske mit dem Titel «Der Kuss», nach der Novelle einer anderen feministisch motivierten Kollegin namens Karolina Světlá.
In einem Bericht hat die Krásnohorská die Stimmung des Komponisten zur Zeit der Entstehung des Werks wie folgt festgehalten: «Während der Meister dieses zauberhafte Werk komponierte, schien er beinah gänzlich vergnügt. Oft stand er vor dem Spiegel in meinem Zimmer, lachte und drohte mit seinem Finger dem eigenen Spiegelbild, indem er sagte: ,Und das sollte ich sein, dieser grauhaarige alte Dachs, der mich aus dem Spiegel heraus anschaut? Glauben Sie es bloss nicht: Dieser Spiegel lügt! Ich fühle mich wie ein 17-jähriger Jüngling, nicht wie dieser bebrillte, bärtige alte Grossvater!’»
Die Premiere im November 1876 im Nationaltheater in Prag war für Smetana ein Triumpherlebnis sondergleichen. Den tauben alten Mann holte man immer wieder auf die Bühne, Blumenregen kamen aus dem Parkett und fielen aus den Logen und von den Rängen hinunter. Das Prager Publikum bereitete seinem früheren Dirigenten, der bis dahin seine Opernwerke in diesem Haus ja immer selbst dirigiert hatte, die warmherzigste Ehrenbezeugung, die er sich nur wünschen konnte.
Dickköpfigkeit von Mann und Frau
Inhaltlich ist diese Bauernfarce schnell erzählt. Ein Bauer, verliebt in seine Jugendliebe, wird von den Eltern jedoch zu einer anderen Ehe gezwungen. Bald kommt ein Kind, dann wird er Witwer und will noch in jungen Jahren zu seiner Lebensliebe zurück. Alles sieht zunächst gut aus, obwohl der Vater der neuen Braut aufgrund der Starrköpfigkeit von Braut und Bräutigam Bedenken hat. Die beiden finden dennoch schnell zueinander. Als aber der Bräutigam Lukas seiner Vendulka einen Kuss geben will, verweigert diese den Kuss, aus Pietät vor der jüngst verstorbenen Mutter des Kindes.
Lukas ist ein Hitzkopf, provoziert Braut und Familie durch Ausgelassenheit mit anderen Mädchen, mit denen er auf dem Dorfplatz tanzt und sie vor den Augen der Braut abküsst. In ihrer Verzweiflung sucht Vendulka Hilfe bei einer Tante, die sich mit Schmugglern eingelassen hat. (Ein Schmugglerchor gehört zu den berühmt gewordenen Stücken des Werks im 2. Akt.) Natürlich bereuen die Liebenden rasch ihre Handlungsweisen und wollen beide nichts dringlicher als sich wieder versöhnen. Das wird am Ende, nach Missverständnissen und charakterlichen Komplikationen durch angeborene Eigensinnigkeit der Liebenden unter dem Beifall der Dorfbevölkerung auch geschehen. Die alte und neue Liebe wird zum Abschluss – wie es in der Regieanweisung heisst – «mit einem herzhaft innigen Kuss» besiegelt. Küsse sind nicht dazu da, um Glück zu verhindern, sondern um dieses zu beglaubigen und zu erweitern!
Die Oper ist praktisch ausserhalb Tschechiens von den europäischen Bühnen verschwunden, obwohl sie solistische, ensemblebestimmte und chorische Szenen höchster Güte enthält. Um das Schicksal des genialen Begründers der tschechischen Nationalmusik, Smetana, im Vorfeld von Dvořák und Janáček schwebt etwas tief Berührendes und Melancholisches, das aus jedem seiner Werke herauszuhören ist.
Ein besonderes Wiegenlied
In der Schlusspartie des 1. Aktes singt die erhoffte neue Braut Vendulka ein Wiegenlied für das Kind ihres auf einen Kuss beharrenden Liebhabers, das sie bereits ganz ins Herz geschlossen hat. Es gehört zu den schönsten Wiegenliedern, die wir aus der Opernwelt kennen.
Nachdem der störrische Lukas sich auf den Weg ins Wirtshaus gemacht hat, um sich wegen des verweigerten Kusses bei Tanz und Tändeleien mit anderen Mädchen zu vergnügen, wendet sich Vendulka dem in der Wiege liegenden Kleinkind zu: «Hajej, můj andílku – Schlaf, mein kleiner Engel, schlaf ruhig und brav, es wiegt dich deine Mutter …» Da wird ihr bewusst, dass ihre wirkliche Mutter ja im Grab liegt, und sie stimmt ein zweites Wiegenlied an.
Dieses handelt von einer weissen Taube, eigentlich von einer menschlichen Seele, die in den Himmel fliegen will. Sie begegnet einem Engel, der sie ermuntert: «Flieg nur weiter, kleine Seele, bis in den Himmel hinein! Ich will an Deiner Stelle das Kind küssen und in den Schlaf wiegen.» Bei diesem zweiten Lied schlummert die Ersatzmutter Vendulka selbst an der Wiege ein …
Wir hören das Lied in einer Version, die die wunderbare Mezzosopranistin Sena Jurinac 1950 bei EMI eingespielt hat. Es spielt das Philharmonia Orchestra unter der Leitung vo Warwick Braithwaite. Das erste Wiegenlied singt die Sängerin in der tschechischen Originalsprache, das zweite in einer deutschen Fassung.