Plötzlich, an einem Aprilmorgen, war es da: ein Strichmännchen auf der Fassade des Zürcher Kunsthauses, halb verborgen von Auguste Rodins Höllentor. Die wenigsten haben es bemerkt. Das Kunsthaus schon.
Das Skelett, das hier aufgesprayt wurde, trug unverkennbar die Handschrift von Harald Naegeli, dem „Sprayer von Zürich“. Laut Angaben des Kunsthauses war der achtzigjährige Naegeli bei seinen Sprayereien gefilmt worden.
Seine Gerippe werden von den einen als Schmiererei und Sachbeschädigung bezeichnet. Andere zahlen Preise im zweistelligen Tausenderbereich für seine Arbeiten.
Seine Kritiker schmettert er ab. „Ich bin ein Genie“, sagte er vor zehn Jahren in einem Interview mit Journal21.
Das Kunsthaus Zürich hat nun gegen Naegeli Strafanzeige wegen Sachbeschädigung eingereicht.
Nicht nur neben dem Höllentor hatte er jetzt zugeschlagen. Rund um das Kunsthaus sind neue Strichmännchen zu sehen.
Naegeli verstand seine Kunst als Protest gegen das „langweilige und monotone Zürich“. Die meisten seiner Sprayereien wurden als Sachbeschädigung bezeichnet und entfernt. Er sprayte nachts und lange blieb seine Identität verborgen. Dann wurde er entdeckt und zu neun Monaten Haft verurteilt. Er entzog sich der Strafe und flüchtete nach Düsseldorf. Dort wurde er später festgenommen, an die Schweiz ausgeliefert, wo er dann sechs Monate im Gefängnis sass. Anschliessend zog er wieder nach Düsseldorf. Zahlreiche Künstler und Intellektuelle hatten sich für ihn eingesetzt. Immer wieder wurde er als einer der ersten Street-Art-Künstler bezeichnet.
Auch in Zürich fand nach und nach ein Umdenken statt. Vor knapp zehn Jahren fand in einer Zürcher Galerie eine Auktion seiner Bilder statt – ein riesiger Erfolg für ihn. Zahlreiche Strichmännchen, die er geschaffen hat, sind heute geschützt.
Seit zwei Jahren arbeitet nun Harald Naegeli in den Türmen des Zürcher Grossmünsters – ganz offiziell – an einem „Totentanz“.
Offenbar hat es ihn nun eines späten Abends in Richtung Kunsthaus gezogen, wo er wieder tätig war. Dass er vom Kunsthaus angezeigt wurde, wird ihn kaum belasten. Mit der Polizei und der Justiz hat er Erfahrung. Sein ganzes Leben lang lebte er von der Provokation.
(Journal21.ch)