Die jüngste Formulierung von Joe Binden hat mich elektrisiert: Putin sei ein «Schlächter». Damit folgt er einem alten bekannten Muster: Wir sind die Guten – dort sind die Bösen. Westliche Demokraten sind gut – russische Oligarchen sind böse. Wie Fernsehberichte zeigen, hören wir von einigen russischen Menschen das Gegenstück: Alles Westliche ist böse – Alles Russische ist gut. Ein Blick in die Geschichte der Homo-sapiens-Populationen bis heute zeigt, so betont Yuval Noah Harari in seiner «kurzen Geschichte der Menschheit»: Keiner unserer Vorfahren ist ebenso wenig wie wir nur Engel oder nur Teufel, sondern wir alle sind beides, eben Menschen.
Am letzten Sontag (27.3.) erlebten wir im Theater Stok eine Aufführung: «Das griechische Kunstlied» mit Gedichten und Vertonungen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wir hörten und sahen: Daphne Zournatzi (Gesang), Katerina Paraschou (Gesang), Alexandros Kasartzis (Cello) und Christos Theodorou (Piano). Werner van Gent, bekannt als früherer Journalist, vor allem in Kriegs- und Krisengebieten, war der Einladende und las und kommentierte die vertonten Gedichte in deutscher Übersetzung. Er erzählte, wie er nach den Aufenthalten in den Kriegsgebieten Ruhe suchte und Musik hörte, um sich wieder mit der Welt zu versöhnen. Versöhnung mit der Welt, dazu sollte auch der Liederabend einladen. Zwei Gedichte haben mich besonders berührt.
Das erste war ein kurzes Epos mit Namen «Kemal» und stammt vom griechischen Dichter Nikos Gatsos (1911–1992). Kemal, so hören wir in der zusammenfassenden Ouvertüre des Erzählers, ist ein «junger Prinz des Ostens,/ Nachfahre von Sindbad dem Seefahrer, /der dachte er könne die Welt ändern.» Er hört, dass Beduinen in der Wüste ohne sauberes Wasser und Geld dahindarben, zieht dorthin und «schwört ihnen bei Allah, dass sich die Zeiten ändern werden». Aber er hat nicht mit der Reaktion der «Fürsten» gerechnet: Diese jagen ihn als Aufrührer «vom Tigris zum Euphrat, von der Erde bis zum Himmel», bringen ihn zum «Kalifen, damit er ihm die Schlinge umlegt.» – «Schwarzen Honig, schwarze Milch» trank er am Morgen seiner Hinrichtung.
Vor dem Paradies erwartet ihn der Prophet mit «zwei betagten Kamelen und einem roten Reitpferd». Sie gehen «Hand in Hand» durch die Himmel. «Nach einem Monat und einem Jahr» kommen sie am Thron von Allah an. Aber keineswegs wird der Held gelobt. Nein, so Allah: «Mein geschlagener Experte, die Zeiten ändern sich nicht, mit Feuer und Schwert schreitet die Menschheit stets voran.» Und der Erzähler verabschiedet sich mit dem Abgesang: «Gute Nacht Kemal, diese Welt wird sich niemals ändern. Gute Nacht …»
Der Applaus wollte nicht aufhören. Es war wohl nicht nur die wunderbare Art, wie das griechische Ensemble das dynamische Lied vortrug, sondern auch die «göttliche Ein-Sicht».
Und nicht zuletzt die Art der Musik. Die Vertonung stammt von Manos Hatzidakis (1924–1995), bekannt durch seine Theater- und Filmmusik, aber auch für die Wiederentdeckung der «Rembetika», das sind städtische Volkslieder, entstanden nach 1922 unter dem Einfluss von Flüchtlingen aus Kleinasien. Die Liedvertonung trägt den Charakter dieser Musik, die Einheimische und Flüchtlinge zusammen entwickelten.
Der zweite Text stammt vom Dichter und Dramatiker Iakovos Kambenellis (1921–2011), vertont von Mikis Theodorakis (1925–2021). Kambenelles floh aus dem von Deutschen seit 1941 besetzten Griechenland Richtung Schweiz, wurde dabei 1943 in Österreich verhaftet und kam ins österreichische Konzentrationslager Mauthausen bis zum Mai 1945. «Mauthausen» ist auch sein berühmtester Roman, 2010 in deutscher Sprache: «Die Freiheit kam im Mai». Er ist einer der geehrtesten Dichter Griechenlands.
Gesang der Gesänge – Lied der Lieder
Wie schön sie ist, meine Liebe
mit ihrem Alltagskleid
und mit einem kleinen Kamm im Haar.
Niemand hat je gewusst, dass sie so schön ist.
Mädchen von Auschwitz,
Mädchen von Dachau,
habt ihr nicht meine Liebe gesehen?
Wir haben sie auf einer weiten Reise gesehen,
sie hatte ihr Kleid nicht mehr
und auch nicht den kleinen Kamm im Haar.
Wie schön sie ist, meine Liebe,
die von ihrer Mutter
und den Küssen ihres Bruders Verwöhnte.
Niemand hat je gewusst, dass sie so schön ist.
Mädchen von Mauthausen,
Mädchen von Belsen,
habt ihr nicht meine Liebe gesehen?
Wir haben sie auf dem eisigen Platz gesehen
mit einer Ziffer auf ihrem weissen Arm,
mit einem gelben Stern auf dem Herzen.
Wie schön sie ist, meine Liebe,
die von ihrer Mutter
und den Küssen ihres Bruders Verwöhnte.
Niemand hat je gewusst, dass sie so schön ist.
Beim Zuhören kam es zu einer Überblendung: Die Geliebte erschien uns zugleich wie die geliebte Welt, die ständig verletzt, geschunden, ermordet wird. Und so lud uns dieses Lied noch intensiver zur Versöhnung mit der Welt ein, ohne auch nur im Geringsten das Mitgefühl für die Leidenden zu verlieren.