Es gibt bekanntlich die 9/11-Verschwörungstheoretiker, eine erstaunlich grosse Gemeinde von Anhängern der Meinung, die Twin Towers seien 2001 nicht durch islamistische Terroristen zerstört worden.
Variationen eines Wahns?
Vielmehr bieten sie zuhauf Theorien herum, vom Komplott der westlichen Geheimdienste, die das WTC mit Sprengstoff bestückten, bis zu Laserstrahlen aus dem All. Selbstverständlich sind – wie üblich – die Verschwörungstheoretiker unter sich zerstritten, und ein grosser Teil ihrer „Forschung“ konzentriert sich darauf, sich gegenseitig der Unwahrheit zu bezichtigen.
Das Phänomen fasziniert und irritiert freilich über 9/11 hinaus. Tatsächlich geistern Verschwörungstheorien durch das ganze 20. Jahrhundert (auch schon früher), über die zionistische Weltverschwörung, die Verbreitung von AIDS oder Ebola, die Mondlandung 1969, UFOs, die Barschel-Affäre, das Kennedy-Attentat, Prinzessin Dianas Autounfall, den Untergang des Schiffes „Estonia“, Autismus fördernde Impfstoffe und so fort. Das von Robert Anton Wilson, dem Autor der Kult-Trilogie „Illuminatus“, verfasste einschlägige Lexikon der Verschwörungstheorien listet über 500 Konspirationen auf.
Konfabulation
Handelt es sich um Variationen eines Wahns? Die Tatsache, dass solche Theorien über Jahrhunderte hinweg stets wiederkehren, lässt jedenfalls auf einen typisch humanen Zug schliessen. Die Psychologie kennt die Konfabulation, das heisst das Ausweichen, Ausflüchte suchen, eine neue „Fabel“ erdichten, um widersprechenden Tatsachen zu begegnen. Sozialpsychologen sprechen auch von der „Verschwörungsmentalität“ als einer allgemeinen politischen Haltung.
Dennoch wäre eine vorschnelle Psychologisierung zu kurzsichtig. In Verschwörungstheorien zeigen sich Charakterzüge, die durchaus auch bei wissenschaftlichen Theorien zu beobachten sind. Es stellt sich deshalb die Frage, ob sich in Verschwörungstheorien sozusagen ein eigenes intellektuelles Profil ausdrückt.
Verschwörung braucht Dramatis Personae
Ein offensichtliches Charakteristikum ist die Personalisierung. Die Verschwörungstheorie braucht Dramatis Personae, individuell oder kollektiv: Osama Bin Laden, Beate Zschäpe, Licio Gelli, Islamisten, Neonazis, Geheimlogen, die NSA. Man könnte sagen, solche Theorien reduzieren die Komplexität von politischen und sozialen Phänomenen dadurch, dass sie Ereignisse bestimmten Personen zuschreiben, Eminenzen der politischen Oberwelt oder der kriminellen Halb- und Unterwelt.
Auf diese Weise macht man die Ereignisse zum „Theater“, werden die Ursachen auf menschliche Gründe und Motive reduzierbar. Die simpelste und dümmste Methode ist die Verteufelung. Das Problem solcher Theorien ist nur, dass sie meist an Symptomen haften und nicht zu den Ursachen vorstossen. Sie können auch zu fatalen politischen Fehlschlüssen führen, zum Beispiel: Osama Bin Laden töten schwächt Al Kaida; oder: Diktator Hussein eliminieren schafft die Basis für Demokratie im Irak. Der Ökonom Bruno S. Frey weist jüngst in einer Kolumne (Berner Bund, 16.3.2015) zu Recht darauf hin, dass auch die Medien an einer „Theatralisierung“ (1) beteiligt seien.
Oft suchten sich Gruppierungen nach Terrorakten dadurch zu profilieren, dass sie sich zu deren Urhebern erklären. „Journalisten betteln beinahe darum, dass sich jemand (mit der Tat, Anm.E.K.) brüstet. Damit wird der Terrorismus belohnt.“ Das heisst, er erhält ein Weltbühnen-Personal. Frey leitet daraus eine durchaus diskussionswerte Massnahme ab, nämlich auf eine eindeutige Rollenzuschreibung zu verzichten und vielmehr „glaubwürdig (zu) berichten, dass viele verschiedene Gruppen das Verbrechen für sich in Anspruch nehmen,“ wodurch die Täter und deren Organisationen frustriert würden.
Autarke Theorien
Ein zweites Charakteristikum ist der Universalanspruch. Die Verschwörungsthese fungiert als ein explikativer Leisten, über den sich alle verwandten Ereignisse schlagen lassen, nach der Logik: Wer nur einen Hammer hat, sieht in allem einen Nagel. Die Grundorientierung wird umgekehrt: Nicht die Theorie richtet sich nach der Welt, die Welt richtet sich nach der Theorie.
Aber gibt es denn keine Verschwörungen? Natürlich gibt es sie, nachgewiesenermassen, wie etwa Watergate oder den P2-Skandal. Für den Verschwörungstheoretiker sind sie oberflächliche Erscheinungen, sozusagen Pilze, die aus einem unterirdischen fabulösen Myzel schiessen. Das ist der Stoff, den die einschlägigen Okkult-Romane in unzähligen Varianten immer wieder rezyklieren. Als höchst aufschlussreich erscheint dabei, wie mit einander widersprechenden Ansichten verfahren wird. Verschwörungstheorien bilden, so nennt dies eine sozialpsychologische Studie aus dem Jahr 2012, ein „monologisches Glaubenssystem“, ein autarkes Weltbild, das aus sich wechselseitig stützenden, aber auch aus widersprüchlichen Meinungen besteht. In einem Experiment wurden Probanden nach ihrer Zustimmung zu verschiedenen Aussagen gefragt, zum Beispiel: Osama Bin Laden wurde bei dem Angriff der Amerikaner getötet; Bin Laden lebt noch; als der Angriff stattfand, war Bin Laden schon tot.
Man würde meinen, dass die Probanden entweder der Aussage zustimmten, Osama sei beim Angriff getötet worden oder er lebe noch. Viele hielten aber beide Ansichten für wahrscheinlich. Der Grund, vermuten die Psychologen, liegt darin, dass in einem monologischen Glaubenssystem eine Grundüberzeugung die kontradiktorischen Meinungen zusammenkittet: Regierungen verschleiern die Wahrheit. Unter diesem Generalverdacht kann alles wahr sein, kochen die Verschwörungstheoretiker ihre mehr oder weniger giftigen Süppchen.
Mangel an Information?
Der amerikanische Politologe Cass Sunstein vertritt in seinem Buch „Conspiracy Theories and Other Dangerous Ideas“ (2014) die Ansicht, dass Verschwörungstheorien aus Uninformiertheit entstehen. Er spricht von einer „verkrüppelten Erkenntnistheorie“, die jeder von uns aufgrund mangelnden Wissens über politische Vorgänge habe. Ich glaube nicht, dass mehr Information Verschwörungstheoretiker von ihrer Überzeugung abbringen würde. Oft legen sie ja eine geradezu monomanische Faktensammelwut an den Tag. Für plausibler halte ich eine andere Ansicht: Nicht die Information ist das Problem, sondern das Licht der Theorie, das auf sie geworfen wird. Der Verschwörungstheoretiker ist immun gegenüber Falsifizierung. Evidenz, die seiner Theorie widerspricht, interpretiert er stets um zugunsten der Theorie.
Aber beharren nicht auch Wissenschafter oft auf ihren Theorien, ungeachtet der empirischen Gegenbeispiele? Zeigt sich also an Verschwörungstheorien nicht der spezifische Konservatismus normaler Forschung? Der Verschwörungstheoretiker kann den Spiess immer umdrehen und dem Wissenschafter erwidern: Ich lasse mich wie du von Hypothesen leiten, und ich werfe wie du meine Hypothesen nicht bei jedem empirischen Gegenlüftchen über Bord. Damit hat er gewiss Recht: die Grenze zwischen unbelehrbarer und „heuristischer“ Sturheit ist fliessend. Dennoch sorgt in der Wissenschaft generell ein Ethos für Trennschärfe, das dem Tribunal der Evidenz („evidence“) Priorität vor den Überzeugungen einräumt. Bei hinreichender Gegen-Evidenz wird der Wissenschafter von seiner Überzeugung ablassen – was oft geraume Zeit braucht -, es sei denn, er riskiere, „exkommuniziert“ zu werden. Ein solcher sozialer Ausschlussmechanismus ist bei Verschwörungstheoretikern kaum wirksam, handelt es sich meist um sektenartige Gruppierungen oder Einzelkämpfer, die sich entsprechend oft sowohl zu Rebellen gegen die Autoritäten als auch zu Hütern „der“ Wahrheit hochstilisieren.
„Schlechte Denker“
Die Rede von einem Ethos der Forschung legt – parallel zur Moral - den Gedanken an entsprechende Erkenntnistugenden nahe. Man orientiert sich hier meist an der Tugend der Wahrheitssuche. Die amerikanische Philosophin Linda Zagzebski spricht in diesem Sinn von „Tugenden des Geistes“, im Besonderen vom „epistemischen Pflichtbewusstsein“. Entsprechend führt sie als „Erkenntnislaster“ etwa Leichtgläubigkeit, Trägheit, Beschränktheit, Tunnelblick, Mangel an Gründlichkeit, Unempfänglichkeit für Details an. Solche Merkmale lassen sich fallweise durchaus bei Verschwörungstheoretikern feststellen. Aber an dieser Typisierung ist etwas ganz anderes problematisch. Statt auf Verschwörungen schauen wir jetzt auf Verschwörungstheoretiker. Wir haben nicht Gründe für ihre Theorien im Visier, sondern gewissermassen ihr intellektuelles Profil. Verschwörungstheoretiker sind – so nennt sie kürzlich der britische Philosoph Quassim Cassam in einem Essay – „schlechte Denker“.
Damit setzt man sich nun allerdings schnell in die Nesseln. Bizarre Überzeugungen auf Charakterzüge von Personen, auf Marotten, zurückzuführen hat etwas oberlehrerhaft Herablassendes: Wir nehmen sie, indem wir in ihren Überzeugungen den Ausdruck einer besonderen intellektuellen Haltung sehen, paradoxerweise gerade intellektuell nicht mehr ernst. Wenn ich dem 9/11-Verschwörungstheoretiker eine Konspirationsmentalität unterstelle, dann ist das dasselbe, wie wenn ich einem Mathematiker, der ein Theorem beweist, erwidern würde: Ich sehe darin nichts als eine Schrulle von dir, uns deine Überlegenheit spüren zu lassen. Zudem ist es höchst fragwürdig, bizarre Überzeugungen durch einen korrespondierenden „schlechten“ intellektuellen Charakter erklären zu wollen. So betrachtet, entpuppten sich wohl nicht wenige Wissenschafter als ziemlich erbärmliche Figuren.
Ein Trainingsfeld für Erkenntnistugenden
Und trotzdem – die Idee hat etwas für sich. Es gibt gute Gründe, an die offizielle Version von 9/11, der Erschiessung von Bin Laden, des Unfalls von Diana zu glauben, selbst wenn etliche Zweifel nicht ausgeräumt sind. Solche Gründe würdigen zu können, ist eine Erkenntnistugend. Sie beruht auf kritischer Neugier, Aufgeschlossenheit, Beharrlichkeit im Nachfragen, Strenge in der Gedankenführung. Sie ist uns nicht in die Wiege gelegt. Sie ist eine unserer geistigen Trägheit mühsam abgewonnene Fähigkeit, die wir heute mehr denn je brauchen, nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch und vor allem im Journalismus. Und der beste Verwendungszweck von Verschwörungstheorien liegt darin, ein gutes Trainingsfeld für diese Fähigkeit abzugeben.