Langsam scheint Cannes wieder zur Routine zurückzufinden. Die Eröffnungszeremonie des Festivals stand jedenfalls ganz unter dem Zeichen der Übertragung: Chiara Mastroianni, die Zeremonienmeisterin, stellte sich unter das monumentale Festivalplakat, das ihre Mutter Catherine Deneuve in einer historischen Schwarzweissaufnahme zeigt, und überreichte Michael Douglas die diesjährige «Palme d’honneur».
Auch in der Organisation ist das Festival zum Erprobten zurückgekehrt. Seit zwei Jahren (covid oblige) bucht man seinen Platz in den Projektionssälen online, anstatt Schlange zu stehen. Der Algorithmus, der die Reservationen reguliert, ist jedoch weiterhin undurchsichtig: Es erweist sich als einfacher, an Karten für den jüngsten Scorsese zu kommen, als eine in der Nebensektion ACID programmierte Produktion aus Guinea-Bissau zu sehen.
«Jeanne du Barry»
Neu ist allenfalls die Hellhörigkeit der Medien für die ausserfilmischen Skandale. So die Polemik um den am selben Abend ausser Wettbewerb vorgeführten «Jeanne du Barry» von Maïwenn über die gleichnamige Kurtisane, in dem Jonny Depp die Rolle des Versailler Monarchen spielt. Die Präsenz des Schauspielers, der seit seinem Grabenkrieg mit seiner Ex-Frau in Hollywood als Persona non grata gilt, hat nicht nur die Branchenblätter wie «Variety» und «Hollywood Reporter» auf den Plan gerufen, auch in der französischen Presse kritisierten vornehmlich Schauspielerinnen seine Einladung an die Côte d’Azur –, was Frémaux, den Festivalleiter, zur Bemerkung veranlasste, sein Interesse an Depp sei rein artistisch, im Übrigen folge er nur einer Regel: der «rechtlich garantierten Denk-, Handels- und Redefreiheit».
Dass Louis XV hier die Züge Depps trägt, ist tatsächlich eine nicht uninteressante Entscheidung. Sein von Sprachtrainern hochpoliertes, leicht zögerndes Französisch kommt einer korrekten Diktion genügend nahe, um den Amerikaner nicht als Fehlbesetzung erscheinen zu lassen. Sein zurückhaltendes Spiel — sein maskenartiges Gesicht erinnert bisweilen an Buster Keaton — schafft überdies einen leisen Verfremdungseffekt, der seine Szenen stets unter Spannung hält.
Kritik der Hofetikette
Maïwenn, die neben der Regie auch den Part der aus ärmlichen Verhältnissen aufgestiegenen Geliebten des Königs übernommen hat, stellt wiederum rasch klar, dass die Resonanzen zwischen ihrem romantisierten Bio-Pic und der Gegenwart durchaus willkommen sind. «C’est mon corps» ist eine ihrer gleich zu Beginn der Handlung ausgesprochenen Dialogzeilen, als ein Maler, dem ihre Figur Modell steht, diese zu einer ungewünschten Position überreden will. Auch die Szene um die ärztliche Untersuchung im Vorzimmer von Louis XV, die abklären soll, ob der Körper der auserkorenen Mätresse «hoffähig ist», legt den Akzent frontal auf die der Prozedur inhärenten Gewalt.
Umso erstaunlicher, vielleicht, dass die Inszenierung so konventionell ausfällt: Die Beschreibung der Aristokratie beschränkt sich auf eine Kritik der Hofetikette, auch visuell ist das in 35mm gefilmte Drama selten inspiriert – als ob die spektakuläre Spiegelgalerie und die Gärten des Versailler Palasts der Kamera genügend Motive liefern könnten. Verblüffend auch, wie trocken sich die Beziehung der Protagonisten auf der Leinwand ausnimmt, obwohl gerade das vertikale Klassengefälle der Liaison einen attraktiven Hintergrund bieten könnte – erst als Louis XV Gesicht bereits von den Pocken entstellt ist, werden die komplexeren Gefühlslagen erstmals spürbar.
Bitte um Vergebung per SMS
Der erste französische Beitrag im Wettbewerb stammt von Catherine Corsini. «Le retour», eine soziale Chronik, verdichtet den sommerlichen Aufenthalt in Korsika einer Mutter mit ihren beiden Töchtern zu einer Coming-of-Age-Geschichte, wobei sich der Reifungsprozess der beiden Heranwachsenden vor allem durch eine Konfrontation der Gegensätze zu ergeben scheint. Khédidjia, eine aus Westafrika stammende Französin, hatte fünfzehn Jahre zuvor einen Korsen geheiratet, die Insel anschliessend jedoch zusammen mit den Kindern verlassen. Im Zug dieser (provisorischen) Rückkehr wird, auf eher subtile Weise, die Hautfarbe der Familie thematisiert, auch die Klassen- und sozialen Gegensätze zwischen der Familie und der weissen Umgebung treiben die Handlung voran.
Wie etwa in «La fracture», Corsinis vorhergehender Produktion, treibt das überexplizite Drehbuch das Drama bisweilen ins Manichäische – erfreulicherweise stellt sich das nuancenreiche Spiel der Darstellerinnen dem Determinismus entgegen: Die Szene, in der die Mutter ihre ältere Tochter per SMS-Nachricht um Verzeihung für ihre erzieherischen Verfehlungen bittet, gehört zu den bewegendsten Momenten, die das Festival bislang zu bieten hatte.
Auf ein «wahres» Ereignis baut «Le procès Goldman» von Cédric Kahn, der die «Quinzaine des cinéastes» eröffnet hat. Das Justizdrama – man denkt an Billy Wilders «Witness for the Prosecution», aber auch an «Saint-Omer» von Alice Diop – kommt auf den Revisionsprozess von Pierre Goldman zurück, der angeklagt war, 1969 anlässlich eines Raubüberfalls zwei Pharmazeutinnen erschossen zu haben.
Film von Wim Wenders über Anselm Kiefer
Die Enge des Gerichtssaals, in dem drei simultan drehende Kameras jede Gefühlsregung einfangen konnten, scheint die Energie der Inszenierung paradoxerweise zu stimulieren. Das eigentliche Potential des Films liegt jedoch in seiner historischen Anlage: Goldman, Sohn eines polnisch-jüdischen Résistants, hatte sich in den sechziger Jahren in der venezolanischen Guerilla engagiert und später in Frankreich eine Reihe Banküberfälle unternommen. Die romantische Aura, die ihn umgab, garantierte ihm das Wohlwollen der französischen Intelligenzia, unter den Prozessbeobachtern befanden sich unter anderem Simone Signoret und Régis Debray.
War Goldman schuldig — oder lagen die Geschworenen mit ihrem Freispruch richtig? Kahn gibt ein halbes Jahrhundert nach den Verhandlungen keine Antwort, sein Film erlaubt es ihm jedoch, einige der politischen und gesellschaftlichen Bruchlinien freizulegen, die Frankreich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchzogen haben.
Im Rahmen einer «Séance spéciale» war Wim Wenders’ «Anselm» zu sehen, eine in 3D gedrehte Annäherung an das monumentale Werk Anselm Kiefers. Der Künstler als Ruinenbauer: In Wenders’ Rekapitulation von Kiefers Schaffen wird offensichtlich, wie obsessiv die überdimensionierten Winter- und Trümmerlandschaften immer wieder auf die Kriegs- und Nachkriegsjahre fokussieren. Die lebenslange Auseinandersetzung des Künstlers mit Paul Celan wird angesprochen, auch seine Faszination für Heidegger findet Erwähnung. Am Ende sinniert Kiefer im gigantischen Hangar, der ihm als Atelier dient, über das Gewicht der Menschheit gegenüber einer Milliarden Jahre umfassenden geologischen Geschichte: «Das Sein und das Nichts stehen in keiner chronologischen Beziehung, sie bedingen einander. Deswegen ist das Scheitern in jedem Tun, in jedem Kunstwerk bereits angelegt.»