Nach dem besonders schwerwiegenden Anschlag der Taliban am vergangenen Freitag auf ein Militärlager in der Nähe von Mazar-e-Sherif, im Nordosten Afghanistans, bei dem nach den jüngsten Angaben mehr als 150 Soldaten der afghanischen Armee ihr Leben verloren, sind der Armeechef und der Generalstabschef zurückgetreten, den Mitteilungen nach „freiwillig“. Ihre beiden Stellvertreter übernahmen provisorisch die vakanten Führungspositionen.
Der Anschlag hat offensichtlich das Vertrauen der Afghanen in ihre Armee und deren Führung erschüttert. Im afghanischen Parlament wurden sogar Stimmen laut, die den Rücktritt des Staatspräsidenten, Ashraf Ghani, und seines Exekutivoberhauptes, Abdullah Abdullah forderten. Der „freiwillige“ Rücktritt der beiden Armeeoberhäupter erfolgte nach einer Sitzung mit den beiden (rivalisierenden) Chefs der Regierung, dem Innenminister sowie militärischen Chefs und Sicherheitsberatern, in der die Geschehnisse analysiert wurden.
Taliban mit Armeeausweisen
In dem Lager befanden sich neu ausgehobene Truppen, die in ihrer ersten Ausbildung standen. Die Taliban kamen verkleidet in Armeeuniformen und in Armeefahrzeugen mit ihren Waffen und mit den nötigen Personalausweisen. Sie trugen sogar Rangabzeichen. Es müssen zehn Personen oder mehr gewesen sein. Sie konnten sechs Kontrollbarrieren überwinden, indem sie sich als Angehörige des 10. Armeecorps ausgaben. Einer von ihnen soll einen Verwundeten simuliert haben, an dessen Arm eine Infusion angebracht war.
Ein Offizier bei der siebten und letzten Sperre forderte sie auf, ihre Waffen abzugeben. Sie schossen ihm in den Kopf. Mindestens drei der Angreifer trugen Selbstmordgürtel. Sie erreichten das Innere des Armeelagers zur Zeit, als das Mittagsgebet in der Lagermoschee beendet war und die Soldaten, unbewaffnet, zum Mittagessen aus der Moschee strömten. Die Angreifer stellten sich um die Moschee herum auf und lösten ihre Selbstmordgürtel aus. Auch eine Rakete wurde abgeschossen. Einer von ihnen liess sein Gewehr beiseite und gebärdete sich als ein Offizier, der die verstörten Rekruten in die Kantine dirigierte. Dort gab es keinen Ausweg für die Soldaten. Angreifer mit Maschinenpistolen schossen sie zusammen. Erst fünf Stunden später konnten afghanische Kommandotruppen die Angreifer niedermachen.
Es brauchte mehrere Tage, bis die Zahl der Opfer bekanntgegeben wurde. Anfänglich war von kleineren Zahlen die Rede. Bis heute weiss man nicht sicher, ob die endgültige Opferzahl 150 oder 170 ist. Dazu kommen gegen 200 Verletzte. Die afghanische Bevölkerung sah die schwankenden Verlustangaben als einen Versuch, ihr die wahren Opferzahlen vorzuenthalten. Dies umso mehr, als die afghanische Armee schon bei früheren Anschlägen ihre Verluste geheim zu halten versuchte. Während mehreren Tagen wurden die Toten aus dem Lager in ihre Heimatorte transportiert. In manchen Fällen, wo die Strassen unsicher sind, mit Helikoptern.
Eine Armee der Mittellosen
Von den ermordeten Armeerekruten heisst es oftmals, sie hätten keine andere Arbeit gefunden und sich deshalb zur Armee gemeldet. Viele waren noch keine zwanzig Jahre alt. Es gibt bittere Kommentare über die politische Führung und die leitenden Bürokraten. Ihnen wird nachgesagt, sie schickten ihre Kinder ins Ausland mit dem Geld, das sie aus der Bevölkerung herauspressen. „Den Armen überlassen sie die Aufgabe, das Land und ihr Wohlleben zu verteidigen.“
Die Armee selbst ist offenbar keineswegs frei von der Korruption, welche im ganzen Lande blüht. Eine amerikanischer „Sonder-Armeeinspektor für den Wiederaufbau in Afghanistan“ verfasste zu Beginn des Jahres einen Bericht, in dem es hiess, es gebe nach wie vor „Geister-Soldaten“ in der Armee. Das sind solche, die nur auf den Listen stehen, aber nicht in der Realität existieren und deren Sold und Unterhaltskosten von irgendwelchen Offizieren und Mittelsmännern eingesackt werden. Jene Soldaten, die effektiv im Kampf stehen, seien bloss ein Bruchteil der Soll-Bestände, die für den Kampf notwendig wären, sagt der Bericht.
Andere Quellen, unter ihnen der angesehene Afghanistan-Fachmann Ahmed Rashid, behaupten, nur etwa 17‘000 von den Amerikanern ausgebildete Elitetruppen seien wirklich in der Lage, gegen die Taliban zu kämpfen und trügen die Hauptlast der Abwehr. Der Rest der Truppen, gegen 170‘000 Mann, werde nur selten in den Kämpfen eingesetzt und diene meistens bei Bewachungsaufgaben.
Die Armee hat auch ein Drogenproblem und auch eines mit dem Misstrauen, das zwischen den Mannschaften und ihren Offizieren besteht. Es kam des öfteren vor, dass Soldaten auf ihre Offiziere schossen, meist, weil sie dazu durch die Taliban angestachelt wurden. Umgekehrt gelten die Offiziere bei den Soldaten – offenbar nicht ohne Grund – als korrupt.
US-Gelder als Lebensgrundlage
Der amerikanische Staat unterstützt die afghanische Armee seit zehn Jahren mit rund vier Milliarden Dollar im Jahr. Der Krieg, der dort seit 2001 geführt wird, ist inzwischen der längste der amerikanischen Geschichte geworden. Doch in Afghanistan und für die Afghanen dauert der Krieg praktisch ununterbrochen seit Weihnachten 1979 an, als die Sowjetarmee einmarschierte. Die Afghanen wissen, dass eine Reduktion der amerikanischen Gelder droht. Sie wissen auch, dass die Armee ohne das Geld der USA nicht auskommen kann und zerfallen würde.
In der Vergangenheit haben sich die Anschläge der Taliban primär gegen Offiziere und hohe Provinzbeamte gerichtet. Der jüngste jedoch, Massenmord an Rekruten, ist offenbar dazu bestimmt, die Rekrutierungsbasis der afghanischen Armee zu schädigen und das Prestige der Armee als Ganzes noch weiter zu erschüttern. Die Taliban haben erklärt, der Angriff stelle den Auftakt zu ihrer Frühlingsoffensive dar.