Der Klimawandel verstärkt sich, der heisse Sommer 2018 forderte seine Opfer. Immer deutlicher zeigten sich die fatalen Auswirkungen auch in der Politik. Gutschweizerische Tugenden verdampften in der Hitze. Verhandlungsabbrüche statt helvetische Kompromisse bestätigten: In der anhaltenden Hitze siegten die Hitzköpfe über die kühlen Denker.
Stabile Grosswetterlage
Schon seit langer Zeit reden unsere Politikerinnen und Politiker von der dringenden Notwendigkeit eines Rahmenabkommens mit der EU. Ausgenommen jene der SVP – sie sind seit jeher gegen diesen „Kolonialvertrag“. Für alle andern ist eigentlich klar: Wir wollen aus wirtschaftlichen Gründen am EU-Binnenmarkt teilnehmen. Für die Schweizer Exportindustrie ist dies lebensnotwendig; weit über 60% unseres Exportes geht in die EU. Dass die schweizerische Verhandlungstaktik de Föifer und s Weggli auszuhandeln langfristig von der EU nicht akzeptiert wird, ist einleuchtend. Teilnehmen ja klar, sich den dafür notwendigen Regeln unterwerfen, nein danke: Nur sehr naive Köpfe vertrauen auf diese Idee. Somit verhandeln wir endlos über ein Ding der Unmöglichkeit. An dieser Grosswetterlage hat sich nichts geändert.
Verhandlungsabbruch, zum Ersten
Wie ein heftiges Gewitter, mit Blitz, Donner und Hagelschlag, rüttelte anfangs August Gewerkschaftsführer Paul Rechsteiner die in der anhaltenden Hitze dösenden Politikerinnen und Politiker aus dem Sommerschlaf. Der unverbesserliche Ideologe und Selbstdarsteller hatte genug von alledem: er, der sich seit Jahrzehnten profiliert durch Provokationen, stufte wieder einmal seine persönlichen, lies kurzfristigen gewerkschaftlichen Siegeschancen höher ein als das langfristige, längst überfällige Verhandlungsziel zum Wohle aller. Gesprächsverweigerung als Beitrag zur Lösungsfindung war noch nie eine vernunftgeprägte Option. Die Idee der Einhaltung einer roten Linie (Lohnschutz und Service public dürfen nicht angetastet werden) diente dabei als medialer Aufhänger. Die eidgenössischen Wahlen von 2019 im Auge – Rechsteiner selbst kandidiert zwar nicht mehr – sah der gewiegte Taktiker den Moment gekommen, seinem Dogma „Löhne gegen Reformen“ ein weiteres Mal Ausdruck zu geben. Dieser „Streik“ der Gewerkschafter ist seit jeher das letzte Mittel der Blockade, wenn es nicht im Sinne der Erfinder geht.
Verhandlungsabbruch, zum Zweiten
Wie reagierten die Spitzen der FDP, CVP und SP auf diese Provokation? Ihre noch anfangs Jahr betonte Aufbruchstimmung mit Fokus Vorwärtsstrategie in Sachen Rahmenabkommen verwandelte sich über Nacht ins Gegenteil. Übungsabbruch! Ohne Teilnahme der Gewerkschaften an den innerschweizerischen Gesprächen zur Findung eines (eventuell) europatauglichen Lösungsvorschlags zur Deblockierung der unbefriedigenden Situation mit der EU seien weitere Verhandlungen sinnlos. So rasch und flexibel können unsere Spitzenpolitiker umdenken. Da stellt sich vielleicht manch einer die Frage: Wie ernst ist es ihnen eigentlich beim jeweils gültigen Tages-Communiqué? Und was mögen sich erst die verantwortlichen Bundesräte gedacht haben? Vor allem natürlich Johann Schneider-Amman, der Pechvogel. Dass seine gut gemeinten Vorschläge das Ende der laufenden Verhandlungen provozieren würde, dieses Szenario war wohl auch bei seinen Beratern nicht vorausgesehen worden. Dass seinen anstehenden Verhandlungen mit allen Beteiligten das vorzeitige „Aus“ drohen könnte, wahrlich ein Novum. Gesprächsverweigerung als Wahltaktik: eine neue Runde der schweizerischen Reformunfähigkeits-Tristesse.
Verhandlungsabbruch, wie weiter?
Mal abgesehen davon, wie sich diese Verhandlungsabbrüche innerhalb unseres Landes auf die Diskussionen mit der EU auswirken werden, ob es gar zu einem gleichen Vorgehen der Gesprächsverantwortlichen in Brüssel kommen oder ob lösungsorientiertes Denken dort doch mehr Gewicht haben wird – wir wissen es nicht. Nicht auszuschliessen ist, dass ein Rahmenabkommen nicht zustande kommen wird und somit bilaterale Verträge die Zukunft unserer Zusammenarbeit mit der EU regeln werden.
Nachdenklich stimmen ja seit einiger Zeit die innereuropäischen „Wetterkapriolen“ – lies das Verhalten mehrerer osteuropäischer Mitgliedstaaten inkl. Österreichs – in der EU. Diese „scheren aus der Brüsseler Frömmigkeit aus“ (NZZ am Sonntag). Man reklamiert mehr Souveränität. Der Brexit Englands von 2019 verunsichert dort zusätzlich. Solchermassen eingedeckt mit eigenen Turbulenzen wird die eh unbewegliche EU-Spitze abwarten und sicherlich zu keinen Konzessionen mit der Schweiz bereit sein.
Unter diesen Voraussetzungen verliert ein einstweiliger Verhandlungsabbruch zwischen der Schweiz und der EU etwas an Bedrohlichkeit. Es darf spekuliert werden, dass sich Brüssel nach dem Brexit bewegen wird, ja bewegen muss, vorher jedoch Konzessionen kategorisch verweigern würde. So könnten die offensichtlichen Befehlsverweigerungen im EU-Lager (Asyldiskussion als Beispiel) dazu führen, dass es zu einigen substantiellen Autonomiezugeständnissen kommen wird. Dies wiederum würde die schweizerischen Chancen für den unabdingbaren Freiraum stärken. Dies wäre das Traumszenario. Bekanntlich dürften Schweizerinnen und Schweizer supranationale Befehlselemente aus Brüssel dann nicht akzeptieren, wenn diese unsere nationalen Zuständigkeiten substantiell einschränkten (Souveränitätsverlust).
Verhandlungsführung gesucht
Wie immer sich die Knacknuss mit dem Rahmenabkommen entwickeln wird, das beste Rezept gegen die grassierende Verhandlungsabbruch-Mentalität ist eine aktive Führungsrolle des Bundesrats. Offensichtlich wusste er bis dato gar nicht, was er eigentlich anstrebt. Denn gemäss Bundesratssitzung von anfangs 2018 verlautete, dass nach vier Jahren Verhandlungen mit Brüssel der Bundesrat nun herausfinden wolle, was er von der EU wolle … (NZZ am Sonntag). Soviel dürfte klar sein: Personenfreizügigkeit, Landwirtschaft, Luft- und Landverkehr und Gleichwertigkeit von Produktionsvorschriften müssen im dereinstigen Rahmenabkommen geregelt sein. Dies sind vor allem die Bereiche, in denen die Schweiz vom Zugang zum gemeinsamen EU-Markt profitieren kann. Man darf gespannt sein: Auf den Bundesrat, Ignazio Cassis und den Tag, an dem die mehrjährige Blockade eines zentralen Abkommens der Schweiz mit der EU durchbrochen werden kann.