Die amerikanisch-russische Journalistin Masha Gessen hat mit einem Vergleich zwischen einem jüdischen Ghetto während der Nazi-Besetzung in Osteuropa und dem Gaza-Streifen vor dem 7. Oktober einen grösseren Wirbel provoziert. Der ihr in Deutschland zugesprochene Hannah-Arendt-Preis wurde ihr schliesslich doch noch verliehen.
Die 56-jährige Masha Gessen, in Moskau als Kind jüdischer Eltern aufgewachsen und heute in Amerika lebend, ist eine höchst streitbare Journalistin. Sie hat mehrere kritische Bücher über Putins Russland geschrieben und engagiert sich als selbstdeklarierte nonbinäre Aktivistin für die LGBT-Bewegung. In Bremen sollte ihr am vergangenen Wochenende in einer feierlichen Zeremonie der Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken verliehen werden.
«In the shadow of the Holocaust»
Doch die Preisverleihung wäre beinahe geplatzt, weil sie kurz zuvor im «New Yorker» einen langen Essay mit dem Titel «In the Shadow of the Holocaust» veröffentlicht hatte, in dem sie sich kritisch mit dem Gedenken vor allem in Deutschland an den Vernichtungsfeldzug des Hitler-Regimes gegen das Judentum auseinandersetzte.
In dem Essay äussert sie sich zwar zu Beginn anerkennend über die langjährigen Anstrengungen Deutschlands, diese historische Katastrophe vielschichtig aufzuarbeiten und nicht aus dem Gedächtnis zu verlieren. «Here was a country or at least a city», schreibt sie über ihren letzten Besuch in Berlin, «that was doing what most cultures cannot: looking at its own crimes, its own worst self».
Allerdings, fährt sie dann fort, sei seit einiger Zeit manches an diesen Gedenkritualen steril und «wie von Glas umschlossen» worden. Nur bestimmte Denkweisen über dieses Thema würden als angemessen akzeptiert. Insbesondere gehe es darum, den Holocaust als ein singuläres, einzigartiges Ereignis der Geschichte zu zementieren, das mit keinen anderen historischen Tragödien verglichen werden könne.
«Freiluftgefängnis» oder «Ghetto»?
Solchen denkerischen und sprachlichen Vorgaben setzt Masha Gessen vielseitige Argumente und Widersprüche entgegen. Unter anderen Bezügen kommt sie auch auf die Situation des Gaza-Streifens und seiner Bevölkerung vor dem Massaker von Hamas-Terroristen in Israel am 7. Oktober zu sprechen. Dieses hauptsächlich von Israel und weitgehend auch von Ägypten abgeriegelte Gebiet war zuvor von vielen Kritikern als eine Art «Freiluftgefängnis» bezeichnet worden, das den rund 2,3 Millionen Bewohnern praktisch keine Möglichkeit offenliess, sich ausserhalb dieses Territoriums zu bewegen.
Masha Gessen argumentierte im «New Yorker», der Begriff «Ghetto» wäre wohl das zutreffendere Wort für die Lage der Gaza-Bewohner vor dem 7. Oktober, doch dieser Begriff käme unter Beschuss, weil damit die Situation der Gaza-Einwohner mit derjenigen von Ghetto-Juden verglichen würde. Aber dieser umstrittene Begriff wäre auch geeignet, für das, was jetzt in Gaza passiere: «Das Ghetto wird liquidiert.»
Preisverleihung in reduziertem Rahmen
Dieser tatsächlich sehr problematische und provokative Vergleich zwischen dem Schicksal von Ghetto-Juden während der Nazi-Herrschaft und der Gaza-Bevölkerung hat in Deutschland prominenten Protest ausgelöst. Die mit der grünen Partei verbundene Heinrich-Böll-Stiftung, die den Hannah-Arendt-Preis zusammen mit dem Senat des Bundeslandes Bremen gegründet hatte, erklärte, dass sie ihre Unterstützung für die in Bremen geplante Preisverleihung an Masha Gessen zurückziehe. Auch die Stadt Bremen äusserte sich in diesem Sinne. Doch ein voller Eklat konnte vermieden werden. Man einigte sich hinter den Kulissen darauf, die Preisverleihung am vergangenen Samstag doch abzuhalten, allerdings in sehr viel kleinerem Rahmen als ursprünglich geplant.
Masha Gessen nutzte die reduzierte Bremer Veranstaltung zu einer substantiellen Rede, in der sie ihren Standpunkt zum Sinn von Vergleichen und offenen Diskussionen darlegte und zugleich auf das Beispiel der unerschrockenen Philosophin Hannah Arendt verwies, die sich lebenslang mit solchen Fragen beschäftigt hatte. Ihre englisch gehaltene Rede kann in deutscher Übersetzung im Wortlaut nachgelesen werden.
Äpfel und Orangen – nicht vergleichbar?
«Warum ziehen wir Vergleiche?», fragt Gessen in ihrem Vortrag. «Wir ziehen sie, um zu lernen, weil sie uns helfen, die Welt zu verstehen. Erst neben andern Farben wird eine Farbe zur Farbe.» Dennoch stelle man in der Gesellschaft Regeln auf über Dinge, die angeblich nicht miteinander vergleichbar seien – zum Beispiel über Äpfel und Orangen (im deutschen Sprachgebrauch würde man Äpfel und Birnen sagen). Dennoch sei, meinte Gessen, dieser angeblich unzulässige Vergleich ihrer Meinung nach sinnvoll, um Äpfel und Birnen zu verstehen.
Dann nimmt die Rednerin die in Deutschland weitverbreitete Ansicht oder These ins Visier, dass nichts in der Geschichte mit dem Holocaust verglichen werden sollte, weil es sich um ein einzigartiges, unvergleichbares Ereignis handle. Doch mit solchen Einengungen und Regeln werde der Meinungs- und Gedankenaustausch zwischen den Menschen und in der Welt eingeschränkt. Hannah Arendt indessen habe die Politik immer als einen Raum verstanden, «in dem wir herausfinden, wie wir zusammen in dieser Welt leben können, ein Raum der Diskussionen und des Denkens und des Schaffens neuer Möglichkeiten».
Relativierung des Ghetto-Vergleichs
Nach solchen grundsätzlichen Überlegungen geht Gessen näher auf ihren umstrittenen Vergleich zwischen dem Gazastreifen und den jüdischen Ghettos in Osteuropa im Zweiten Weltkrieg ein. Sie sei beim Schreiben dieser Formulierung der Meinung gewesen, dass diese Formulierung sich besser eigne für die Diskussion über die Lage des Gazastreifens als der Ausdruck «Freiluftgefängnis». Sie räumt jetzt aber ein, dass dieser Vergleich sehr heikel sei, denn «wenn wir vergleichen, vergleichen wir auch Kontexte und Geschichten und geben Vorhersagen ab … Sie sagen das Schlimmste voraus.»
Diese schlimmste mögliche Entwicklung, nämlich die völlige «Liquidierung» des Gazastreifens und seiner Bevölkerung, wollte die Autorin mit ihrem provozierenden Ghetto-Vergleich offenbar nicht prognostizieren. Insofern scheint sie ihre umstrittene Formulierung nachträglich zu relativieren oder doch zu präzisieren. Allerdings geht sie nicht näher auf die Unterschiede ein, die bei ihrem Vergleich zwischen den Begriffen Ghetto-Liquidierung und Gazastreifen relevant sind.
Dennoch verteidigt Masha Gessen in ihrer Rede für den Hannah-Arendt-Preis zum Schluss noch einmal die grundsätzliche Zulässigkeit auch von umstrittenen historischen Vergleichen: «Deshalb vergleichen wir. Um zu verhindern, dass Dinge, von denen wir wissen, dass sie passieren können, passieren.»
«Hannah Arendt würde heute in Deutschland gecancelt»
Die in Deutschland von einer streitbaren jüdisch-amerikanisch-russischen Autorin entfachte Kontroverse um die Grenzen, Regeln und Tabus der Holocaust-Diskussion scheint nach der herabgestuften Preisübergabe in Bremen halbwegs entschärft. Eine ebenso engagierte britische Autorin indessen ist nicht geneigt, diese Auseinandersetzung ad acta zu legen. Die Schriftstellerin Samantha Hill, Verfasserin einer Biographie über Hannah Arendt, publizierte zu Beginn dieser Woche im britischen «Guardian» eine fulminante Attacke gegen die Kritiker von Masha Gessens Essay im «New Yorker» und die Limiten der Holocaust- und Israel-Debatte in Deutschland.
Hills Fazit: Die echte Hannah Arendt könnte sich heute in diesem Land nicht für den Hannah-Arendt-Preis qualifizieren. «Sie würde in Deutschland gecancelt», schreibt die Autorin, insbesondere für Arendts politische Stellungnahmen zu Israel und zum zeitgenössischen Zionismus, zu dem sie sich in den letzten Lebensjahren kritisch geäussert hatte.
Doch gegen Gessens kritische These, dass in Deutschland der Diskurs über die Vergleichbarkeit des Holocaust und über den Israel-Gaza-Krieg tendenziell einseitig eingeschränkt werde, kann man vor dem historischen Hintergrund durchaus auch eine positive Interpretation geltend machen: Sie signalisiert, dass in diesem Land das Bewusstsein über die moralischen Verantwortungen und Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Holocaust-Katastrophe weiterhin lebendig ist. Masha Gessen, die sich als Journalistin mit jüdisch-russisch-amerikanischen Bindungen über diese Zusammenhänge gut auskennt, hat diesen Gedanken in ihrem umstrittenen Essay im «New Yorker» übrigens auch formuliert.