Von einigen Romanautoren, mit denen ich bekannt bin, kenne ich die Pein des Anfangs, des Anfangens. Es muss ja, aus dem Nichts kommend, eine Folge von Wörtern her, ein Satz, der das Werk in die Welt der Leser hineinstellt. Und dieser Satz muss sitzen, überzeugen und soll als erstes zum Weiterlesen animieren. Kaum vorstellbar für den Aussenstehenden, was für Seelenqualen das definitive Formulieren dieses ersten Satzes für einen Autor, eine Autorin bedeuten kann. Klar: Es gibt auch die anderen, die Glücklichen, denen der Einfall des ersten Satzes als Türöffner für den Rest des Romans dient und die, von keinen Skrupeln geplagt, weiter- und weiter schreiben können.
Erste Sätze von Romanen und Erzählungen können eine magische Wirkung entfalten – man vergisst sie nie mehr. Beschäftige ich mich mit Kafka, fällt mir sofort der Anfang von „Der Prozess“ ein: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ Für mich ist in diesem in einem Atemzug, schnörkellos ausbrechenden Drama und Unglück der ganze Kafka präsent. Oder der atemlos hervorgestossene, syntaktisch klein geklopfte lange erste Satz der „Marquise von O.“, ein Anfang, wie er nur Heinrich von Kleist einfallen konnte, der seine Geschichten, wenn es denn möglich gewesen wäre, am liebsten in einem Moment erzählt, in einem einzigen Satz zusammengepackt hätte: „In M., einer bedeutenden Stadt im oberen Italien, liess die verwitwete Marquise von O., eine Dame von vortrefflichem Ruf und Mutter von mehreren wohlerzogenen Kindern, durch die Zeitungen bekanntmachen, dass sie ohne ihr Wissen in andere Umstände gekommen sei, dass der Vater zu dem Kinde, dass sie gebären würde, sich melden solle und dass sie aus Familienrücksichten entschlossen wäre, ihn zu heiraten.“
Oder Max Frisch, der seinen Roman „Stiller“ mit dem Satz „Ich bin nicht Stiller!“ beginnt: eine heftige Irritation für den Leser, eine geniale Provokation. Der dem Roman den Namen gebende Antiheld will nicht sein, der er, nach Meinung seiner Umgebung, ist – und der Leser wird, vom ersten Wort an, mit der abgründigen Identitätsproblematik konfrontiert, mit dem „Ich ohne Gewähr“ wie es die Literaturwissenschafterin Gerda Zeltner nannte und beschrieb. Frisch soll den Anfang des Romans übrigens erst bei der Korrektur der Druckfahnen so definiert haben, wie wir ihn heute lesen.
Der Anfang der „recherche“
Was mich zum eingangs erwähnten Faksimile führt, von dem nun die Rede sein soll. Es handelt sich um ein Druckwerk, so gross, so schwer, dass es in keinem Bücherregal unterzubringen ist, herausgegeben 2013 in einer kleinen Auflage vom französischen Gallimard-Verlag und der Bodmer-Stiftung in Genf. Rot eingestanzt in das in Ziegenleder gefasste Buch leuchtet der Titel auf: „Marcel Proust/ Du côtè de chez Swann/ Combray/ Premières épreuves corrigées 1913“. Leider kostet die Kostbarkeit, die das Herz jeglichen Proust-Adepten höher schlagen lässt, an die 300.-
Akribisch gibt der Herausgeber Charles Méla Rechenschaft ab über die Arbeit seines Teams; er zeigt den Weg auf, der vom Dokument, den 1913 von Marcel Proust korrigierten Druckfahnen des ersten Bandes der „recherche“, zur vorliegenden Ausgabe führt. Diese enthält, ausser dem Faksimile der erhalten gebliebenen korrigierten Druckfahnen, die transkribierte, also die endgültige Fassung des Romans, den viele für den bedeutendsten des 20. Jahrhunderts halten.
Die Verzweiflung des Verlegers
Proust war ein besessener Rechercheur und Stilist, der Tage, Monate damit verbrachte, dieses und jenes Detail seines Textes zu verifizieren, zu verfeinern, zu verändern – eine umfängliche Korrespondenz bezeugt seine unermüdlichen Anstrengungen. Schaut man sich die Geburt des Anfangs der „recherche“ an, wird man sich sagen müssen, dass die Qualen, die der Autor auf der Suche nach der ultimativen Formulierung erduldete, nur von der Verzweiflung seines Verlegers übertroffen werden konnten. Der nämlich musste damit fertig werden, dass sich Proust nicht damit begnügte Druckfehler zu korrigieren, sondern dass er seinen Text umschrieb und das in einer schwer lesbaren Handschrift. Es wurde gestrichen, in und über die Druckzeilen geschrieben, Zusätze auf Papierfetzen in die Seiten geklebt.
Vertieft man sich ins Anschauen und ins Lesen der korrigierten, transkribierten Texte, kann man plötzlich eine Euphorie, die natürlich eine Illusion ist, erleben: man fühlt sich, als ob man dem Akt der Entstehung der definitiven Fassung der „recherche“ beiwohnen würde. Man „sieht“ die Hand Prousts, der den Titel des ganzen Zyklus und den Titel des ersten Bandes ändert, um dann auf den ersten Seiten von „Du côté de chez Swann“ kaum einen Satzstein auf dem andern zu belassen. Der berühmte erste Satz der „recherche“ „Longtemps, je me suis couché de bonne heure“ wird durchgestrichen, anders formuliert – und schliesslich doch wieder an den Textrand geschrieben; er übersteht das Proustsche Fegefeuer und bleibt uns erhalten. Sonst aber bekommt der lange Einstieg, das berühmte Stück Literatur, in dem der Ich-Erzähler im Vagen, im Dunklen der Nacht zwischen Wachsein, Schlaf, Traum und Erinnerung meditiert und sich seiner Bilder, seiner Themen bewusst zu werden beginnt, erst jetzt, erst in diesem allerletzen Korrekturakt die Gestalt, die wir kennen.
Verflixte Romananfänge, verflixte erste Sätze. Wenn die Korrekturfahnen ins Haus flattern, heisst es für den Autor, Abschied nehmen. Einmal aus der Hand gegeben, werden die Wörter unveränderbar und führen, in der Welt der Leserinnen und Leser, ein Eigenleben. Es gibt Autoren, für die das Schreckensvisionen sind.