Der Sohn eines Ungarn und einer Französin arbeitete, bevor Hitler im Mai 1940 Frankreich angriff, in Paris als begabter Karikaturist und Illustrator, der auch kleinere Texte humoristischen Inhalts schrieb. Er war Pazifist mit kommunistischen Neigungen und stand dem Schriftsteller Romain Rolland nahe, der sich vor dem Ersten Weltkrieg im Schweizer Exil für Humanität und Frieden einsetzte.
Nachdem Hitlers Truppen in einem „Blitzkrieg“ den Norden Frankreichs besetzt hatten und sich in Vichy die Marionettenregierung des Marschalls Pétain installiert hatte, ging Jean Bruller in den Widerstand. Nach der demütigenden militärischen Niederlage, stellte er fest, gehe es nun darum, das geistige Überleben der Nation sicherzustellen. Mit einigen Freunden gründete er den Untergrundverlag Editions de Minuit. Im Jahre 1941 verfasste er sein berühmtes Buch, einen Text von kaum fünfzig Seiten, mehr Erzählung als Roman.
Das Buch erschien im nächsten Jahr als erster Titel bei den Editions de Minuit unter dem Pseudonym Vercors. Der Name war mit Bedacht gewählt. Der Vercors ist ein Gebirgsplateau der westlichen französischen Alpen im Süden von Grenoble. Dieses unzugängliche Gebiet wurde zu einem der wichtigsten Zentren der Résistance und war der Schauplatz brutaler Repressalien der deutschen Wehrmacht.
Die Handlung des Buches, wenn überhaupt von Handlung die Rede sein kann, spielt in einem kleinen französischen Dorf, das von der deutschen Wehrmacht eingenommen worden ist. Ein Offizier, Werner von Ebrennac, wird in einem Haus einquartiert, das von einem älteren Mann und seiner Nichte bewohnt wird. Es ist dieser Mann, der die Geschichte erzählt.
An einem Abend im November des Jahres 1941 tritt der Offizier in die Stube der Franzosen und stellt sich in fast akzentfreien Französisch vor: „Ich bedaure... Es musste natürlich sein. Ich hätte es vermieden, wenn das möglich gewesen wäre. Ich denke, meine Ordonnanz wird alles tun, um Ihre Ordnung nicht zu stören.“ Der alte Mann und seine Nichte erwidern nichts. „Das Schweigen“, heisst es im Roman, „breitete sich aus. Es wurde immer dichter, wie Morgennebel. Dicht und reglos. Die Reglosigkeit meiner Nichte und zweifellos auch meine eigene liessen dieses Schweigen zu einer bleiernen Last werden.“
Vercors’ Buch erzählt nun die Geschichte dieses Schweigens, das zwei Menschen der besiegten Nation, um ihre Würde zu wahren, jedem Versuch des Offiziers der feindlichen Macht entgegensetzen, ein Gespräch zu eröffnen. Werner von Ebrennac ist ein hagerer, gut aussehender Mann von hohem Wuchs und mit blondem Haar, Abkömmling französischer Hugenotten, die im 17. Jahrhundert nach Deutschland emigriert sind.
Im zivilen Beruf ist er Komponist; er ist literarisch gebildet und ein grosser Freund der französischen Kultur. In der Eroberung Frankreichs sieht er die Möglichkeit einer Aussöhnung zwischen den beiden Nationen und der Schaffung eines neuen geistigen Europas. „Ich komponiere Musik“, sagt er eines Abends zum alten Mann, der seine Pfeife raucht und zur Nichte, die sich in eine Strickarbeit vertieft. „Ich komme mir als Krieger auch reichlich sonderbar vor. Trotzdem bedaure ich diesen Krieg nicht. Nein. Ich glaube, dass Grosses daraus hervorgehen wird...“ Die beiden Franzosen schweigen. Der Offizier verabschiedet sich mit den Worten: „Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.“
Diese Szene wiederholt sich während Monaten. Der Offizier tritt in die gute Stube, wärmt sich zuweilen am offenen Feuer, sagt einige Sätze, auf die niemand antwortet, und geht auf sein Zimmer mit dem Satz: „Je vous souhaite une bonne nuit.“ Eines Abends setzt sich Ebrennac an das Harmonium, das in der Stube steht und spielt ein Präludium von Bach, das die Nichte zuvor geübt hat. Die beiden hören schweigend zu. Der Deutsche sagt: „Jetzt brauche ich Frankreich. Doch ich verlange viel: Ich verlange, dass es mich empfängt... Man wird die Hindernisse überwinden. Aufrichtigkeit überwindet alle Hindernisse. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.“
Eines Abends verabschiedet sich Ebrennac für längere Zeit. Er habe einen Urlaub, sagt er, und er freue sich darauf, diesen in Paris zu verbringen. „In Paris“, sagt er, „werde ich vermutlich meine Freunde treffen, von denen viele an den Verhandlungen teilnehmen, die wir mit euren Politikern führen, um die wunderbare Vereinigung unserer beiden Völker vorzubereiten. So werde ich gewissermassen Zeuge dieser Trauung sein... Ich möchte Ihnen sagen, dass ich mich für Frankreich freue, dessen Wunden auf diesem Wege alsbald vernarben werden, aber viel mehr noch freue ich mich für Deutschland und für mich selbst! Nie wird jemand von seiner guten Tat in so hohem Masse profitieren wie Deutschland, wenn es Frankreich seine Grösse und seine Freiheit wiedergibt. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.“
Als Ebrennac wieder in das französische Dorf zu seinen schweigenden Gastgebern zurückkehrt, ist mit ihm eine tiefgreifende Veränderung vorgegangen. Seine Hoffnung auf eine geistige Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich hat sich als Trugbild erwiesen. In Paris, erzählt er erschüttert dem alten Mann und seiner Nichte, habe er sich mit andern deutschen Offizieren ausgesprochen. Er habe dabei feststellen müssen, dass diese Frankreich als minderwertiges Untertanenland betrachteten, dessen Seele auszulöschen sei. Er sei wegen seiner Illusionen verlacht worden und habe feststellen müssen, dass sein bester Jugendfreund zum radikalen Nazi geworden sei. Da habe er darum gebeten, zu einer Frontdivision im Osten versetzt zu werden. Dies sei ihm gewährt worden, und am nächsten Tage werde er abreisen.
Nachdem er dies in äusserster Erregung und bitter enttäuscht gesagt hat, wendet sich Ebrennac unter der Tür nochmals dem alten Mann und seiner Nichte zu. „Ich glaubte“, berichtet der Erzähler, „er würde die Tür schliessen und gehen. Doch nein. Er blickte zu meiner Nichte. Er sah sie an. Er sagte – er murmelte: ‚Adieu‘. Er rührte sich nicht. Er blieb völlig reglos, und in seinem reglosen gespannten Gesicht lagen seine noch regloseren, noch gespannteren Augen auf den – allzu grossen und allzu hellen Augen – meiner Nichte. Das dauerte, dauerte – wie lange? – dauerte, bis endlich das junge Mädchen seine Lippen bewegte. Werners Augen glänzten. Ich hörte: ‚Adieu‘."
Mit diesem ‚Adieu‘ endet der Roman. Nun, beim Abschied, antworten die Franzosen erstmals auf ein Wort des Fremden. Und der Leser spürt, dass sich die Qualität des Schweigens verändert hat. Aus dem Schweigen, das zuvor Ausdruck der Distanzierung und Ablehnung war, ist nun ein Schweigen des Einverständnisses geworden, des Einverständnisses zwischen Menschen verfeindeter Nationen, für die es das Wort „Krieg“ nicht mehr gibt.
Zur Zeit, da Vercors sein Buch schrieb, stand er unter dem Schock des militärischen Debakels. Eine Armee, stolz auf ihre ruhmvolle Tradition, zureichend gerüstet, war der neuartigen mobilen Kriegsführung und den Panzerverbänden des Gegners nicht gewachsen gewesen. Nicht minder verstörend wirkte auf Vercors das Verhalten seiner Landsleute. Da gab es die Rechtskonservativen, die französischen Royalisten und Faschisten, die sich Pétain anschlossen und mit den Nationalsozialisten gemeinsame Sache machten. Da gab es die Opportunisten, die sich anpassten und sich irgendwie durchzuschlängeln suchten. Und es gab die Resignierten und Verzweifelten, die nicht mehr daran glaubten, dass Frankreich sich je von dieser Niederlage würde erholen können. Für diese Resignierten schrieb Vercors sein Buch, in der Hoffnung, dazu beizutragen, dass Frankreich den Glauben an sich selbst wiedergewänne.
Das „Le Silence de la mer“ erschien gedruckt im Februar 1942. Während die deutschen Offiziere und Soldaten bei der Besetzung Frankreichs angewiesen worden waren, mit der Bevölkerung höflich und korrekt umzugehen, zeigte die Besetzung nun ein anderes Gesicht. Erste Attentate auf die Vertreter der Besetzungsmacht waren erfolgt, und diese antwortete mit Geiselerschiessungen. Das Buch erschien zuerst in 350 und dann in 1500 Exemplaren, die unter der Hand verteilt wurden, „sous le manteau“, wie die Franzosen sagen.
Ein Schweizer Verlag publizierte weitere Exemplare und schmuggelte sie über die Grenze; in London ordnete General de Gaulle, Chef des „Freien Frankreichs“, einen Druck an.
Die Lektüre von Vercors’ Buch weckt Erinnerungen an den wichtigsten Bericht aus der Zeit der Besetzung Frankreichs, den wir von deutscher Seite besitzen: an das Tagebuch des Hauptmanns Ernst Jünger aus den Jahren 1941 bis 1943. Jünger, hochdekorierter Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs, ist eine ganz andere Figur als Werner von Ebrennac; er bildet und amüsiert sich in der französischen Hauptstadt, verkehrt mit kollaborierenden Schriftstellern, trinkt Kaffee mit den Damen der vornehmen Gesellschaft, kauft sich bei den Bouquinistes und in den Antiquariaten bibliophile Ausgaben französischer Schriftsteller, promeniert in den Tuileriengärten, im Parc de Bagatelle und im Jardin des Plantes. Daneben ist er beauftragt, die letzten Briefe von zum Tode verurteilen Franzosen zu lesen – eine Aufgabe, die er offenbar mit seiner kulturellen Weiterbildung zu verbinden weiss.
Berühmt und berüchtigt ist die folgende Passage von Jüngers Aufzeichnungen: „Überfliegungen. Vom hohen Dache des Raphaël sah ich zwei Mal in der Richtung von St. Germain gewaltige Sprengwolken aufsteigen, während Geschwader in grosser Höhe davonflogen. Es handelt sich um Angriffe auf die Flussbrücken. Die Art und Aufeinanderfolge der gegen den Nachschub gerichteten Massnahmen deutet auf einen feinen Kopf. Beim zweiten Male, bei Sonnenuntergang, hielt ich ein Glas Burgunder, in dem Erdbeeren schwammen, in der Hand. Die Stadt mit ihren roten Türmen und Kuppeln lag in gewaltiger Schönheit, gleich einem Blütenkelche, der zu tödlicher Befruchtung überflogen wird.“ Das hätte ein Werner von Ebrennac nie schreiben können.