Nach gängiger Auffassung gilt im Islam wie in der jüdisch-christlichen Tradition ein Bilderverbot. Doch die monotheistischen Religionen sind nicht bildlos geblieben. Christentum und Islam haben reiche Bildwelten hervorgebracht. Das Rietberg-Museum geht diesem Widerspruch nach.
«Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde.» So lautet das zweite der Zehn Gebote der jüdisch-christlichen Bibel, das in archaischer Sprache das Abbilden von Gott und Welt (Himmel, Erde und das darunter) verbietet. Spontan verständlich an diesem Text ist das Verbot von Gottesbildern. Es rennt für ein modernes Verständnis gewissermassen offene Türen ein: Selbstverständlich soll und kann man Gott, der menschlichem Erkennen ja nicht zugänglich ist, nicht bildlich darstellen.
Auch die religionsgeschichtliche Frontstellung des Bilderverbots ist nachvollziehbar: Ein Glaube, der sich von Vorstellungen einer durchwegs religiös aufgeladenen Wirklichkeit abgrenzt durch seine Verehrung einer ausserhalb der Welt stehenden Gottheit, hat allen Grund, nicht nur Götterstatuen, sondern auch sonstiges «magisches» Bildwerk zu verbieten. Letzteres war die Begründung für die Ausweitung des Verbots auf die Darstellung «von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde». In den altorientalischen Religionen ausserhalb Israels gab es im Unterschied zum israelitischen Glauben keine strenge Unterscheidung von Gott und Welt. Alles war von Gottheiten durchwirkt, so dass Abbildungen generell «religiöse» Qualitäten hatten, etwa indem sie magischen Praktiken dienten.
Der über ein Jahrtausend später entstandene Islam kennt eine ähnliche Bildaversion wie das Judentum, obschon deren Begründung in seinem Fall viel unklarer ist. So kennt der Koran kein ausdrückliches Bilderverbot. Entsprechende Bestimmungen berufen sich auf die Hadithen, die gesammelten und schriftlich niedergelegten Aussagen des Propheten Muhammad. Sie verbieten es dem strenggläubigen Moslem, nicht nur Bilder Gottes oder seines Propheten, sondern überhaupt Darstellungen lebender Kreaturen herzustellen oder zu besitzen.
Man könnte auf die Idee kommen, Kultur sei das, was durch kreativen Umgang mit Restriktionen zustande kommt.
Soweit die Verbote. Schaut man die Ausstellung im Rietberg-Museum an, so könnte man auf die Idee kommen, Kultur sei das, was durch kreativen Umgang mit Restriktionen zustande kommt. In keiner der drei grossen monotheistischen Religionen wurde das Bilderverbot eingehalten: nicht im Judentum, das zumindest zeitweise figürliche Darstellungen im religiösen Kontext kannte; nicht im Islam, der während seiner kulturellen Hochblüte in der höfischen Sphäre sich einer hochentwickelten Bildkunst erfreute; und schon gar nicht im katholischen und orthodoxen Christentum, wo die Bilderverehrung gar im Zentrum der religiösen Praxis verortet war und ist.
Konträre Arten des Umgangs mit Bildern
Die Rietberg-Ausstellung fokussiert auf die Entwicklungen im Islam und im Christentum. Bis heute stehen sich in den Formen des konservativen Islam und des Katholizismus zwei konträre Arten des Umgangs mit Bildern gegenüber. Als die Taliban 2001 die kolossalen Buddha-Statuen in Bamiyan sprengten und als 2005 die islamische Welt wegen den Mohammed-Karikaturen der dänischen Zeitung «Jyllands Posten» in gewalttätigen Aufruhr geriet, war der Westen unversehens mit dem islamischen Bilderverbot konfrontiert.
Die Buddhas wurden nicht gesprengt, weil sie für eine andere, eine für den Islam falsche Religion standen, sondern weil sie «Götterbilder» waren. Und die dänischen Karikaturen erzürnten Moslems nicht bloss, weil diese sich über den Propheten lustig machten, sondern weil sie das Verbot übertreten hatten, ihn darzustellen.
Bei allem, was mit der religiösen Praxis zu tun hat, hielt der Islam am Bilderverbot weitgehend fest. Bilder, so die Begründung, könnten vom Gebet ablenken. Moscheen und ihre Einrichtungen kennen daher keine figürlichen Darstellungen. Ihre künstlerischen Ausschmückungen sind ornamental, sei es mit pflanzlichen oder geometrischen Mustern. Indem das Ornament im Prinzip endlos ist, vergegenwärtigt es den unendlichen Gott, ohne ihn darzustellen.
Christentum und Islam haben Wege gefunden, trotz Bilderverbot ihre Religionsstifter für die Andacht zu repräsentieren.
Der Andacht dienende Darstellungen können sich jedoch der Gestalt des Propheten nähern, indem sie etwa seine stilisierten Fuss- oder Handabdrücke zeigen oder Texte in der Form seiner Sandale anordnen (Bild ganz oben). Frühe Christus-Darstellungen gehen einen ähnlichen Umweg, indem sie auf die Legende rekurrieren, wonach Christus auf seinem Weg zur Kreuzigung sein Gesicht in das von der heiligen Veronika gereichte Tuch gedrückt habe. In diesem Schweisstuch der Veronika habe sich der Abdruck – das erste und angeblich «echte» Bild – seines Gesichts erhalten. Das Gesicht auf dem Tuch gelangte so ins Repertoire der christlichen Ikonographie.
Interessant ist die obige Gegenüberstellung von Mandylion und Hilye. Während die Ikone auf dem Tuch der Veronika das Aussehen des Christus zeigt, wird in der Hilye das Bildnis des Propheten in einer Beschreibung evoziert, deren Text in der runden Mondsichel – dem Emblem des Islam – angeordnet ist. Die Kreisform und ihre Position auf dem Blatt lassen sie wie den Platzhalter eines frontalen Porträts erscheinen. Beide Darstellungen wurden als Bilder aufgehängt und dienten der frommen Meditation.
Hier Bildabstinenz, dort expansive Praxis
Ausserhalb der religiösen Praxis entwickelte sich in der islamischen Welt trotz des strengen Bilderverbots eine raffinierte figürliche Malerei mit Herrscherporträts, Szenen höfischen Lebens und Illustrationen von Werken der Historiographie und der Dichtung. Hier gibt es kaum grundsätzliche Unterschiede zwischen der islamisch und der christlich geprägten Welt.
Die Kulturdifferenzen auf dem Feld der bildenden Kunst sind am augenscheinlichsten zwischen den theologischen Bildkonzepten des Islams und des römischen Katholizismus. Während der Islam, dessen Bilderverbot auf schwachen Grundlagen beruht, mit der kultischen Bildabstinenz ernst macht, hat der Katholizismus, der eigentlich an ein klares Bilderverbot gebunden wäre, eine wahrhaft expansive Bildpraxis hervorgebracht.
Trotz schwachem Verbot übt der Islam im Kult strenge Bildabstinenz, während der Katholizismus trotz strengem Verbot eine expansive Bildpraxis entwickelt.
Dabei war die Hochschätzung der Bilder für die Glaubenspraxis keineswegs unumstritten. So war etwa Bernhard von Clairvaux (um 1090–1153) besorgt, seine Mönchsbrüder könnten bei der Kontemplation von Bildern abgelenkt werden. Durchgesetzt hat sich jedoch eine andere Sicht. Thomas von Aquin (1225–1274), der grosse Lehrer der Scholastik, sah die Legitimation der Bildverehrung durch die Menschwerdung Gottes in Christus begründet, und zwar mit einem raffinierten Gedanken: Die Bilder Christi werden nicht als Sachen oder Kunstwerke, sondern als Abbilder des Urbilds verehrt. Daraus schliesst Thomas, «dass dem Bilde Christi die gleiche Verehrung zu erweisen ist wie Christus selbst». Und da Gott in Christus Mensch geworden sei, verehre man mit dem Bild Christi auch ihn selbst. – Das ist beste Scholastik und hat die Entwicklung der darstellenden Kunst im christlichen Mittelalter mächtig stimuliert.
Heute: technologisch befeuerte Bilderorgie
Die theologisch-kulturelle Einheit dieses christlichen Kosmos wurde mit der Reformation aufgesprengt. Sie betraf unter anderem das Verhältnis von Bild und Religion, vor allem in den Reformationen Zwinglis und Calvins. Doch da hatte Europa das geistige Universum des Mittelalters schon hinter sich gelassen. Religion war nicht mehr das alles überwölbende Ganze, sondern sie musste ihren Platz in einer sich stetig entwickelnden Welt finden. Das von den reformierten Kirchen turbulent wiederentdeckte Bilderverbot blieb im Wesentlichen auf die Liturgie beschränkt und beeinflusste die allgemeine Bildkultur im Protestantismus längerfristig kaum.
So finden wir uns denn heute in einer technologisch befeuerten Bilderorgie wieder, die global über alle Kulturen, auch die islamische, hinwegfegt. Ein vertieftes Nachdenken über Bilder mit ihren Voraussetzungen, Implikationen und Wirkungen ist nur möglich aus einer Distanz, die wir im Alltag nicht haben können. Die Ausstellung über das Bilderverbot und den kulturgeschichtlich unterschiedlichen Umgang mit ihm verschafft den Besuchern einen solchen Abstand.
Die Schau im Museum Rietberg ist allerdings nicht leicht zu bewältigen. Es dürfte sich empfehlen, sie unter kundiger Führung zu besuchen. Und wer sich vertieft auf die Thematik einlassen will, darf sich den ausgezeichneten Katalog nicht entgehen lassen.
Museum Rietberg, Zürich: Im Namen des Bildes. Das Bild zwischen Kult und Verbot in Islam und Christentum, bis 22. Mai 2022
Katalog: Axel Langer (Hg.), Im Namen des Bildes. Die figürliche Darstellung in islamischen und christlichen Kulturen, Hatje Cantz 2022, 468 S.