Der teilweise überhebliche und gegenüber dem Dalai Lama verächtliche Artikel von Peter Achten kann so nicht hingenommen werden und bedarf in weiten Teilen der Richtigstellung. Dem Autor ist lediglich zuzustimmen, dass die Frage, wer die Inkarnation des nächsten Dalai Lama – wenn es diese geben sollte – bestätigen kann, von höchster politischer Bedeutung ist. Die Hardliner in China spekulieren auf das baldige Ableben des Dalai Lama, um die Tibeter danach völlig unter ihre Kontrolle zu zwingen.
Allein, die apodiktischen Äusserungen im Artikel wie beispielsweise, dass Tibet „seit über dreihundert Jahren ein Teil Chinas“ sei, sind haarsträubend. Wer sich wann und unter welchen Umständen anmasste, eine gemäss den religiösen Regeln identifizierte Inkarnation „genehmigen“ zu wollen, wurde durch die jeweiligen Machtverhältnisse bestimmt. Wenn die Qing-Kaiser oder die Kuomintang-Regierung mitreden wollten, heisst das weder, dass dieses legitim ist, noch dass die Tibeter damit einverstanden waren oder gar offiziell ein Recht zur Mitsprache bei Inkarnationen oder anderen Angelegenheiten erlaubten. Weder die Qing-Dynastie noch gar die Kuomintang-Regierung kontrollierten Tibet, und wenn sich die Tibeter zum Beispiel die Entsendung von chinesischen Statthaltern (Ambanen) nach Lhasa gefallen liessen, heisst das nicht, dass sie damit irgendeinen Machtanspruch für religiöse oder Angelegenheiten legitimierten. Als im letzten Jahrhundert die Tibeter die Ambane und chinesischen Truppen des niedergehenden Kaiserreiches aus ihrem Land komplimentierten, hatte China von 1913 bis zur Invasion 1950 überhaupt keinen Einfluss auf Tibet. Tibet besass alle Merkmale eines unabhängigen Staates, versäumte es gleichwohl, dem Völkerbund beizutreten oder diplomatische Beziehungen zu anderen Staaten aufzunehmen. Dieses rächte sich nach der chinesischen Invasion, so dass Tibet leichter als „Teil Chinas“ tituliert werden konnte.
Wenn man Peter Achtens Logik zu Ende führt, heisst das, dass man ein Land völkerrechtswidrig besetzen darf, dem Volk seine Ordnung aufzwingt, ein vages „Schüler-Patron“-Verhältnis aus der Qing-Dynastie herbeizitiert (die Qing-Kaiser sahen sich als „Schützer“ Tibets und akzeptierten umgekehrt den Dalai Lama als spirituellen „Lehrer“) – und schon ist nach Peter Achten der Fall klar: China hat ein „gewichtiges Mitspracherecht“.
Nur ganz am Rande erwähnt Peter Achten den Fall des Panchen Lama. Vor genau 20 Jahren identifizierte der Dalai Lama einen damals sechsjährigen Jungen gemäss religiöser Tradition als Inkarnation des Panchen Lama. Die Regierung in Beijing fühlte sich übergangen. Nur einen Tag, nachdem die Auffindung der Inkarnation bekanntgegeben wurde, verschwand der Junge mitsamt seiner Familie spurlos. Bis heute weiss man nichts über ihren Verbleib. Anfragen an die chinesische Zentralregierung von ausländischen Regierungen und Menschenrechtsgruppen werden stereotyp beantwortet, alle führten ein „glückliches Leben“, und sie wollten nicht „von Ausländern gestört“ werden. Die Mönche des Stammklosters der Panchen Lamas wurden gezwungen, mittels der Zeremonie der „Goldenen Urne“ (einem Losverfahren) eine China genehme Inkarnation des Panchen Lama zu ermitteln. Während die chinesische Regierung gegen den Dalai Lama wetterte, er missachte religiöse Regeln, übersah sie geflissentlich, dass die „Goldene Urne“ nicht regelmässig, sondern gemäss religiöser Tradition nur bei nicht eindeutigem Auffinden einer Inkarnation zum Einsatz kommt. Der von China eingesetzte Panchen Lama residert übrigens in Beijing und besucht Tibet nur sporadisch, und wenn, dann unter strengen Sicherheitsvorkehrungen.
Völlig ausgeblendet von Peter Achten wird die gegenwärtige 17. Inkarnation des Gyalwa Karmapa. Der 1985 in Tibet geborene Knabe wurde in seltener Eintracht zwischen Dalai Lama und chinesischer Regierung anerkannt und zur religiösen Erziehung in sein zentraltibetisches Stammkloster Tsurphu gebracht. Als Junge war er der chinesischen Propaganda genehm. Man sah ihn in chinesischen Medien abgebildet, wie er scheinbar glücklich auf dem Klosterdach mit einem ferngesteuerten Spielzeugauto hantierte. Als 14-jähriger beschloss er die Flucht aus Tibet, nachdem er sich mehr Gedanken über die religiöse Reglementierung als über die Berge von Spielzeug machte, mit dem ihn die „gütige“ Zentralregierung beschied. Seit der Jahrtausendwende lebt er nach einer dramatischen Flucht aus Tibet im Exil in Indien.
Und es kommt noch schlimmer bei Peter Achten. Nach seiner Version galten dem Dalai Lama Menschenrechte „nichts“, und er gebärde sich heute plötzlich als „Demokrat“. Hat Peter Achten je davon erfahren, dass der Dalai Lama als noch nicht 20-jähriges religiöses und weltliches Oberhaupt während der chinesischen Besetzung bis zu seiner Flucht 1959 ein Reformprogramm für Tibet entwickelte? Dass der Dalai Lama schon 2 Jahre nach seiner Flucht eine demokratische Exilverfassung erliess? Dass diese Verfassung bis heute ständig im Konsens mit dem demokratisch gewählten Exilparlament weiterentwickelt wird? Dass der Dalai Lama selbst den Passus in der Verfassung durchsetzte, dass er abwählbar ist? Dass er freiwillig auf alle weltliche Macht verzichtete und nun ein von den Tibetern gewählter Ministerpräsident das weltliche Oberhaupt ist? Mit diesen Scheuklappen versehen, behauptet Peter Achten im Ernst, China – einer der Staaten, der nach allgemein anerkannten Massstäben zu den schlimmsten Menschenrechtsverletzern gehört – bei der Inkarnationsfrage mitbestimmen kann? Glaubt er wirklich, dass die Tibeter, gleichgültig ob in Tibet oder im Exil, einen von China eingesetzten „Dalai Lama“ akzeptieren?
Diejenigen, die sich dieser Fakten vergegenwärtigen, werden das künftige Schicksal der Dalai Lamas lieber denjenigen in die Hände legen, die vom tibetischen Volk für diese Entscheidungen legitimiert sind.
Ulrich Soltermann, Präsident Yangchen Büchli, Vizpräsidentin