Das muss eine wichtige Persönlichkeit gewesen sein, die am Freitag vor einer Woche in Pakistan ein Staatsbegräbnis erhielt. Der Sarg, in die Nationalfahne gehüllt, wurde auf einer Artillerie-Lafette ins Cricket-Stadium von Karachi gezogen, vorbei an einer salutierenden Ehrenkompanie. Aus der nahen Stadtgarnison knallten derweil 21 Böllerschüsse.
Ehrendes Gedenken
Die Zahl war wie in der Zeit der Kolonialherrschaft die höchste, die einem Toten gewährt wurde – nur dem Staatsgründer Jinnah sowie dem Militärdiktator Zia al-Haq war diese Ehre in den knapp siebzig Jahren von Pakistans Existenz zuteil geworden. Der Staatspräsident und die Chefs der drei Waffengattungen erhoben ihre Hände zum Gebet für den Toten, ebenso wie die Regierungschefs aller Provinzen.
Nur die Millionen armer Pakistaner waren nicht zur Trauerfeier geladen, obwohl Abdul Sattar Edhi ihnen viel näher gewesen war als den Generälen. Denn statt einem ordenstarrenden Brustpanzer besass Edhi ein Paar Sandalen und – in zweifacher Ausführung – ein Salwar-Kamiz, die einfache Hemd-und-Hose-Kombination der nationalen Alltagstracht. Und während das Business der Generäle das Töten ist, war seines das Einsammeln, Waschen und Begraben der Toten.
Recht auf würdige Bestattung
Edhi war während mehr als sechzig Jahren Pakistans Totenträger. Wo in andern Ländern das Auftauchen einer weissbemalten Ambulanz mit einem roten Kreuz oder Halbmond einen blutigen Zwischenfall anzeigt, sind es in Pakistan die kleinen, billigen Autos mit der grellroten Aufschrift EDHI, die dem Passanten anzeigen, dass irgendwo ein Unfall passiert oder sonstiges Unheil eingetroffen ist.
In diesem Land mit seinem chaotischen Verkehr, seinen täglichen Anschlägen und blutigen Konflikten könnte der Leichentransport eigentlich ein lukratives Geschäftsfeld sein. Im Fall der Edhi-Stiftung ist es ein karitatives Unternehmen mit über 3700 Ambulanzen und 330 Erste-Hilfe-Zentren, das Edhi aus einem baufälligen Haus im Armenviertel Mithadar von Karachi betrieb. Er wurde unterstützt von seiner Frau und zwei seiner Kinder sowie unzähligen Freiwilligen, die sich der Mission ihres Chefs verschrieben hatten. Sie lautete: Jeder Mensch hat Anrecht auf ein würdiges Begräbnis.
Ausweitung der Hilfe
In den 50er Jahren stiess Edhisan der Böschung eines Kanals auf Tote, die von Angehörigen zurückgelassen worden waren, sei es, dass sie die Kosten einer Beerdigung nicht aufbringen konnten, oder dass sie die vorgeschriebene Reinigung der Leichen scheuten, weil die Person vielleicht eine ansteckende Krankheit hatte. Das war der Anstoss für seine Lebensaufgabe.
Einmal aufmerksam geworden, stiess Edhi überall auf unbestattete Tote, darunter auch Kinderleichen, Menschen, die bei einer Gewalttat so verstümmelt worden waren, dass Angehörige sie nicht mehr erkannten. Bald hatte Edhi auch ein Ambulanzauto, mit dem er durch die Strassen raste, weil ihn jemand über einen Verkehrsunfall alarmiert hatte.
Wenn er schon den Toten das letzte Geleit gab, war es nur logisch, dass Edhi auch den Überlebenden zu Hilfe kommen würde – verunfallten Verkehrsopfern, Verletzten unter den Trümmern eines eingestürzten Hauses, Männern mit Schusswunden nach einem Feuergefecht zwischen verfeindeten ethnischen Gruppen. Und da pakistanische Krankenhäuser sich oft weigern, Verunfallte ohne Begleitung von Angehörigen (und ohne Barzahlung) aufzunehmen, begann Edhi, in seinen Zentren Erste Hilfe-Stationen zu errichten – neben den Leichenhallen.
Verstossene Frauen
Auch andere Opfer fanden bei ihm Aufnahme. Als ich in den 90er Jahren einmal seine Zentrale in Mithadar besuchte, um ihn zu interviewen, sah ich auf dem Gehsteig ein einfaches Schaukelbettchen, das an einem Eisengestell hing. Später erfuhr ich, dass das Metallgerüst von jedermann als Hinweistafel für ein Edhi-Zentrum erkannt wurde, weil es auch als Waisenhaus diente: Frauen, die ihr Neugeborenes nicht behalten konnten, weil es die Leibesfrucht einer Vergewaltigung war, legten es bei Nacht und Nebel in die Krippe vor einem Edhi-Zentrum.
Diese dienen inzwischen manchmal auch als Frauenhäuser, denn oft genug geschieht es, dass diese Mütter nicht mehr nach Hause zurückkehren können oder von dort vertrieben wurden, weil sie angeblich die Ehre der Familie beschmutzt hatten. Viele dienen später als Freiwillige der Stiftung. Edhi organisierte dort auch die rudimentäre Ausbildung zu Näherinnen oder liess sie Lesen und Schreiben lernen. In Karachi findet jede Woche eine Hochzeitszeremonie statt, in der fünfzig Mädchen einen Mann ihrer Wahl heiraten.
Nationale Ikone
Ich hatte Edhi damals nicht treffen können, obwohl er mir am Telefon ein Gespräch zugesagt hatte. Aber er war, so erfuhr ich, bereits wieder mit einem Ambulanzauto unterwegs. Er lebte inzwischen im Hinterzimmer seines Büros und verzichtete auf jede Einrichtung ausser einm Stuhl und einem Bett.
Mittlerweile war er eine nationale Ikone geworden, wie Mutter Theresa in Kalkutta – nur dass er sich noch weit mehr als diese im Hintergrund der Organisation zu halten wusste und unscheinbar blieb. Er trat kaum in der Öffentlichkeit auf und vermied Ehrungen und offizielle Besucher wie das Feuer. Seine Präsenz war nur in seinen Ambulanzen und Zentren spürtbar, und auch wenn die Aufschrift EDHI jeden Passanten erschrecken liess, schwang in diesem Gefühl immer auch Respekt für die Person und seine Organisation mit. Es hiess, dass bei den zahlreichen Schiessereien in Karachi die Streithähne eine Feuerpause einlegten, wenn Abdul Sattar Edhi sie bat, seine Ambulanzen zwischen den Fronten vorfahren zu lassen, um Erste Hilfe zu leisten.
Religiöse Neutralität
Die grosse Popularität Edhis war auch sein bester Schutz gegen Politiker und Kriminelle, die seine Organisation für ihre Zwecke einspannen wollten. Selbst die islamischen Religionswächter mussten zurückstecken, selten genug in einem Land, in dem einem Vorwurf wegen „unislamischen Verhaltens“ allzu oft eine blutige Straflektion folgen.
Edhi war den Mullahs ein Dorn im Auge, weil er sich immer geweigert hatte, zwischen Angehörigen verschiedener Religionen und Sekten zu unterscheiden. Er war in einem von Religionshass erfüllten Land immer zu seinem Bekenntnis gestanden, dass die gemeinsame Humanität die wichtigste Richtschnur jedes Handelns sein musste.
Standhaftigkeit
Seinen ersten Job in der Wohltätigkeitsorganisation seiner Religionsgemeinschaft verliess er, als er erfuhr, dass diese nur ihren Glaubensgenossen zu Hilfe kam. Edhi gehörte der Sekte der Ahmadiyas an, die der pakistanische Staat inzwischen als „unislamisch“ stigmatisiert und denen er unter Androhung des Blasphemie-Paragraphen sogar die Ausübung der islamischen Rituale verbietet. Selbst dies konnte Edhi nichts anhaben. Er weigerte sich, das Korangebet aufzugeben, ebenso wie er sein Leben lang nie auf seinen langen Bart und das islamische Käppi verzichtete.
Der Blogger Sami Shah schrieb nach dem Tod des 88-Jährigen eine fast Christus-ähnliche Eloge: „Bärtige Muslime sind Extremisten – nur Edhi nicht, Muslime sind Terroristen – ausser Edhi, Pakistaner sind korrupt – ausser Edhi, Karachiwallahs sind gewalttätig – ausser Edhi. Unsere tägliche Erfahrung lehrt uns, dass Edhi in unserem Leben eigentlich nicht präsent sein durfte. Wir Pakistaner wissen, wie man trauert. Es ist das eine Ding, das wir gut kennen. Aber diese Trauer ist zu gross für uns. Niemand kann sie tragen. Ausser Edhi“.