Seit den 1960er-Jahren ist Sir Van Morrison in der Musikszene von Blues, Rock, Soul, Gospel, Folk, Jazz und auch Country unterwegs. Und hat sie entscheidend mitgestaltet. „Roll with the Punches“ heisst sein Werk, das er seinem Katalog von mittlerweile drei Dutzend meist hochklassigen Alben beigefügt hat. Es ist eines der besten seit langem.
Nicht hinterfragen, einfach spielen und tun
Letztes Jahr frönte der 1945 im nordirischen Belfast geborene Ausnahmekönner – er war schon als Teenager mit einer Band on the Road – auf dem Album „Keep Me Singing“ dem Soul. Und nun huldigt er innig dem Phänomen des Blues: „Seit meinen frühesten Jahren bin ich mit dem Blues verbunden. Diesen Sound hinterfragt man nicht, man spielt ihn. Ich habe das, was ich tue, sowieso nie überanalysiert, ich tue es einfach. Das ist meine Haltung.“
Haltung ist auf „Roll with the Punches“ zu spüren, vom ersten Takt an. Fernab von nostalgischem Altmänner-Gesäusel, ohne düstere Melancholie und Weltschmerz (von beidem ist im Gesamtschaffen dieses Künstlers einiges zu finden) überrascht die zwar nicht ausgelassene, aber heitere Leichtfüssigkeit. Mit juvenil anmutender Dynamik, Spiellust, elektrisierender Energie.
Waldschrat im Boheme-Outfit
Im Moment ist Morrison wieder auf Tournee in Europa und den USA. Wenn er seinen untersetzten Körper in extravaganten Anzügen versorgt, den Hut über das schüttere Haar zieht, die Sonnenbrille aufsetzt und live in Aktion ist, fliegen ihm die Herzen zu. Van Morrison ist eben das, was er ist: Eine Art Waldschrat im Boheme-Outfit, irgendwie unfassbar, fast schon mysteriös, von einer magischen Aura umflort.
Man schätzt ihn als kongenialen Sänger, Saxophonisten, Piano-Player, Gitarristen, Mundharmonika-Virtuosen und begnadeten Songwriter. In seiner 50-jährigen Laufbahn hat er in der Branche alles erlebt, was es zu erleben gibt. Und nicht nur Gutes. Manches davon hat er – teils rätselhaft verschlüsselt – in sein Werk einfliessen lassen. Auf „Roll with the Punches“ wirkt er wie befreit, ist allerbestens bei Stimme, voll im Flow oder salopp gesagt: verdammt gut drauf.
Wie Dylan und die Rolling Stones
Sein Album bringt 15 stupende Interpretationen von 15 Songs, die in der Zeitspanne von Ende der 1930er-Jahre bis heute entstanden sind. Zehn davon stammen aus dem klassischen Fundus der US-amerikanischen R&B-Kultur, kreiert von Urgesteinen wie Bo Diddley, Sam Cooke, T-Bone Walker, Lightnin‘ Hopkins oder Little Walter.
Morrison spielt also Covers? Gut und recht, aber wenn angejahrte Singer-Songwriter fremdes Liedgut nachspielen, macht sich unterschwellig oft Skepsis breit: Fehlt es an zündenden eigenen Ideen? Muss schnelles Geld her? Kann sein, muss nicht: Unlängst haben Cracks wie Bob Dylan – mit sensiblen Chansons aus der US-Swing-Ära aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – und die Rolling Stones (ebenfalls mit Bluesjuwelen, wir haben hier über das Album „Back in Blues“ berichtet) begeistert. Weil es ohne Fisimatenten darum ging, den jeweiligen artistischen Wurzeln und Vorbildern nachzuspüren. Und so hält es Morrison auch.
Er allerdings ergänzt seine Hommage mit fünf brandneuen, eigenen Nummern zum homogenen Ganzen. Schon der Album-Titelsong stammt aus seiner Feder und ist cooler Blues. Also rau, fransig, erdig: „Don't try to figure out, who is wrong and who is right/You got to go with the flow/Roll with the punches, that’s one thing I know.“ Morrison: „Songs – egal ob ich sie geschrieben habe oder jemand anders – erzählen Storys. Ich modelliere sie als Performer. Das habe ich schon gemacht, als ich noch kein eigenes Material hatte. Ich war also einst ein Performer und bin es immer noch.“
Glorie dank „Gloria“
Die professionelle Karriere des musikartistischen Solitärs begann 1964 als Frontmann von Them, einer international erfolgreichen britischen R&B- und Beatsound-Band. Einer ihrer Hits, „Gloria“, katapultierte Morrison als Songwriter und Interpret sofort ins Scheinwerferlicht und ist heute quasi der PIN-Code für seine artistische Glorie. Dass der ausdrucksstarke Sänger eine Solo-Laufbahn anstrebte, war bald klar. Doch wie manch anderer geriet er im damals noch unstrukturierten, boomenden Rock-Musikbusiness in New York in den Dunstkreis windiger Geschäftemacher, die ihre Schützlinge arg über den Tisch zogen. Morrisons diesbezügliche Erfahrungen über Jahrzehnte hinweg beförderten sein Misstrauen gegenüber den Vermarktungs-Mechanismen im Showgeschäft und im Medien-Umfeld und hallen bis heute nach.
Astral Weeks – Der Durchbruch
Morrison Durchbruch als Solokünstler kam 1968. Sein fulminantes Album „Astral Weeks“ – eingespielt mit Jazzmusikern – bringt die Disziplinen Jazz, Folk und Blues zusammen. Die Scheibe findet sich in den All-Time-Rock-Charts immer weit oben. Völlig zu Recht: 2008 machte Van Morrison das Album zum Kernstück eines Live-Gigs in der Hollywood-Bowl in Los Angeles. Und es zeigte sich, dass diese Musik über die Jahre hinweg nichts von ihrer atmosphärischen Dichte eingebüsst hatte.
Van Morrisons Alben spiegeln übrigens in den meisten Fällen vexierbildartig seine jeweilige Lebensbefindlichkeit. Oft wird mit allen Genres der angelsächsischen oder amerikanischen Populärmusik jongliert, auf der Klaviatur des Emotionalen gespielt, von Stil zu Stil schwebend. Es gab auch Phasen, wo sich Morrison musikformal wie textlich in den Gefilden des esoterischen Mystizismus so verlor, als wäre er von missionarischem Eifer, von Dämonen umgetrieben. Damit provozierte er puristische Kritiker und machte sogar glühende Verehrer ratlos. Deren Wertschätzung hat er natürlich nicht verloren, denn seine ewigen Aficionados sehen in ihm so etwas wie einen Guru, dem man nichts nachträgt.
Launen, Marotten und Charisma
Das Exzentrische, Launenhafte, Unberechenbare, sogar Marottenhafte gehört zum „Phänomen Van Morrison“. Wer den sperrigen, fast schon halsstarrigen Entertainer über die Zeitläufte hinweg einige Male auf der Bühne erlebt hat, wird sich an Sessions erinnern, denen das Prädikat „sonderbar“ anhaftet. Und man ist geneigt, zu glauben, was Insider kolportieren: Mit diesem Chef hatten es seine Mitmusiker (natürlich alles Könner) nicht immer einfach.
Allerdings gibt es in der Champions-League des Musik-Entertainments kaum Exponenten von Rang, die Van Morrison nicht schon zum Mitspielen eingeladen hätten. Oder bei ihm zu Gast gewesen wären. Dass solche – oft auch spontane – Kooperationen nicht selten zu Stern-Momenten wurden, ist verbürgt. Der Mann hat es eben: das gewisse Etwas, die Chuzpe, das Charisma.
Blues pur und mehr
Dazu passt der Blues, wo für jedes Gefühl Platz ist. Und weil bei „Roll with the Punches“ ein Van Morrison auf der Kommandobrücke dirigiert, ist sogar das Blues-Reinheitsprinzip verhandelbar. Im von ihm komponierten Song „Transformation“ mischt er ihn also mit irischem Folk und einer Prise Soul. „How Far From God“ von Sister Rosetta Tharpe und „Benediktion“ von Mose Allison enthalten zünftige Gospelklänge. „Goin‘ to Chicago“ von Count Basie & Jimmy Rushing hat Jazz-Ambiente, zollt aber auch der Version von B. B. King Respekt. Und für Little Walters „Mean Old World“ wie für alle anderen Nummern hat sich Van ein paar Dinge einfallen lassen.
Stimmgewaltige Oldtimer …
Natürlich wäre Morrisons Hammerstimme im aktuellen Zustand das Mass aller Dinge und eines Vokal-Supports hätte es nicht unbedingt bedurft. Aber zusammen macht es halt immer noch mehr Spass. Und so hat der Boss befreundete Sangesbrüder im Geiste ins Studio geholt: Paul Jones (75), einst mit Manfred Mann unterwegs, Georgie Fame (74), der mit „The Ballad of Bonny and Clyde“ einen Welthit hatte, und Chris Farlowe (77), Sänger von Colosseum.
Diese Oldtimer sind immer noch ziemlich grosse Nummern und man würde jedem einzelnen gerne einen Abend lang zuhören. Klar, dass sie auf „Roll with the Punches“ in jedem Song ihr Allerbestes geben. Und: Wenn Morrison und seine Musketiere die Evergreens „Stormy Monday (T-Bone Walker) mit „Lonely Avenue“ (Doc Pomus) mischen und Bo Diddleys Heuler „I Can Tell“ und „Ride On Josephine“ anstimmen, wird’s richtig fesch.
... und ein Gitarrengott
Mit dabei ist auch Jeff Beck (73), ein Gitarrengott wie Eric Clapton und Jimmy Page. Beck spielt bei mehreren Titeln auf, fügt sich geschmeidig ins Morrison-Ensemble ein. Doch auf Sam Cookes Ohrwurm „Bring It On Home To Me“ darf er dann zum Solo ansetzen.
Morrison sei, so hat ein Kritiker gejubelt, auf „Roll with the Punches“ musikalisch so gut wie Muhammad Ali zur besten Zeit. Das ist etwas hoch gegriffen, ganz abwegig aber nicht. Auch wenn wir das Bild vom Faustkämpfer nicht überstrapazieren wollen, irgendwie passt es schon zu diesem Künstler-Solitär: Er hat das Herz eines Boxers, ist in vielen Fights gestählt, hat manchen Punch genommen, wurde angezählt, geriet ins Wanken. Doch ausgeknockt worden ist er nie – das muss ihm erst mal einer nachmachen!
„Too Late to Stop Now“
„Roll with the Punches“, war es das jetzt? 1974 erschien „It’s Too Late to Stop Now“, ein mehrteiliges Live-Album, das Morrison vor kurzem restauriert, erweitert und neu veröffentlicht hat. Zur Entstehungszeit des Albums war er gerade mal 29. Dessen Titel hatte damals etwas Ironisches, jetzt weiss man, dass er auch Programm war: Tief im Rentenalter drin gibt der irische Teufelskerl immer noch Vollgas, mit Fortüne.
Auf die Frage eines Journalisten, ob jetzt vielleicht nicht ein guter Moment wäre, etwas kürzer zu treten, meinte er: „Erstens weiss ich nicht, was ich mit meiner freien Zeit anfangen sollte und zweitens kann ich es mir schlicht nicht leisten, kein Geld zu verdienen!“
Gesamtkunstwerk in progress
Wahrheit, Koketterie, oder was? Egal, einer, der mit 72 mit so viel Spiellust auftrumpft und taufrische Qualitätssongs vorlegt, hat noch ein paar kreative Ideen in petto. Und so unterstellen wir hoffnungsvoll, dass Morrison in der Tat erst dann stoppen wird, wenn es wirklich nicht mehr anders geht. Drum spielen wir, im Namen des Blues, „Roll with the Punches“ laut und komplett. Und folgen einem Musikus weiter, der längst zum Gesamtkunstwerk in progress geworden ist: Sir Van „the Man“ Morrison – 1000-mal gehört, 1000-mal betört.
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