Über Giuseppe Verdis Beziehung zu den eigenen Eltern ist wenig historisch Gesichertes erhalten geblieben. Umso auffälliger ist in seinem Werk die Rolle der Väter, die dem Glück ihrer Kinder meistens im Wege stehen.
Verdi, dessen leiblicher Vater ein Kleinbürger, Besitzer einer «Osteria» in Le Roncole und in jeder Hinsicht auch ein beschränkter Kleingeist gewesen zu sein scheint, hatte aber das Glück, in Antonio Barezzi einen Ersatzvater zu finden, dem er nicht nur die Förderung seiner musikalischen Talente verdankte, sondern der auch der Vater von Verdis erster Frau Margherita war. Dies erlaubte ihm, als junger Mann bereits in Mailand Theaterluft zu schnuppern, sodass er bald einmal ganz andere berufliche Ambitionen entwickeln konnte als die eines dörflichen Kirchenorganisten in Roncole oder die eines Musikers der oberitalienischen Provinzstadt Busseto.
Das Schicksal zerstört jedoch brutal das junge Glück des Paares: Es verliert in kurzer Zeit die beiden Kinder, noch bevor diese das zweite Altersjahr vollendet haben. Vier Jahre nach ihrer Hochzeit verliert Verdi auch seine junge Frau Margherita, die an einer Hirnhautentzündung stirbt. Verdi wird danach eine Beziehung mit der Sängerin Giuseppina Strepponi beginnen, die seine erste Abigaille 1842 in «Nabucodonosor» (später «Nabucco» genannt) an der Mailänder Scala ist. 1847 wird sie offiziell Verdis Lebensbegleiterin, 1859 wird «La Strepponi» Verdis zweite Ehefrau und Herrin auf seinem Landgut Sant’Agata.
Verdis Vaterfiguren auf der Bühne
Kennern von Verdis Opern sind diese schrecklich eifersüchtigen Väter vertraut, die sich ins Glück ihrer Kinder intervenierend einmischen und so dieses vollkommen zerstören. Es gibt sie vom Frühwerk «Nabucco» bis zum letzten Werk «Falstaff». Zu den bekanntesten dieser Glücksverhinderer in den Lebensentwürfen ihrer Töchter und ihrer Söhne gehören der Hofnarr Rigoletto ebenso wie König Philipp aus «Don Carlos». Aidas Vater Amonasro trübt ebenso das Glück seiner Tochter wie es Vater Ford im «Falstaff» tut, der seine Tochter Nanetta mit dem schrecklichen Pedanten Dr. Cajus verkuppeln will, statt ihr das Glück mit dem jungen Gentleman Fenton zu gönnen. In den Komödien entwickelt sich alles schliesslich zum Wohle der Kinder, dafür sorgen wirkungsvoll schon einsichtige Ehefrauen und deren vertraute Gehilfinnen. Tragödien hingegen haben den Nachteil, dass die uneinsichtigen Patriarchen meistens überleben, allerdings angeschlagen und schwer gebrochenen Herzens, während deren Kinder in der Regel zu Tode kommen und bei ihren bereits verstorbenen Müttern im Himmel landen.
Es gibt allerdings auch in Verdis Opern hochrespektable Väter. Die zwei aus meiner Sicht Herausragenden unter ihnen kommen in seiner Oper «Simone Boccanegra» (1857/1881) vor. Der erste ist Jacopo Fiesco, ein Genueser Edelmann, prinzipientreu und unversöhnlich, hart und stur, aber im hohen Alter aufgrund sich klärender Lebensrätsel doch noch einsichtig und bereit, auch seine unerwünschten Familienangehörigen zu akzeptieren. Der zweite ist Boccanegra selbst, Korsar und Abenteurer, der im Kampf zwischen Adligen und Plebejern zum Dogen Genuas aufsteigt. Er ist der Vater der Enkelin von Fiesco, der wunderbaren Amelia Grimaldi. Zwar stirbt Boccanegra vergiftet von seinen Feinden auf der Bühne, aber nicht ohne zuvor dafür gesorgt zu haben, dass seine Tochter zusammen mit ihrem Geliebten Gabriele Adorno die Herrschaft über die Stadt antreten kann. Väter sind zwar schwierig, weil sie stören, aber es kann sich immer noch als ein Glück erweisen, sie zu haben und zu kennen.
Vater Germont in «La Traviata»
Zu den ergreifendsten Vaterfiguren unter den musikalisch gestalteten «Verdivätern» dürfte neben dem spanischen König Filipp II. dieser Germont gehören, der aus Familienehre verhindern will, dass sein Sohn Alfredo mit einer «Traviata» – wörtlich: mit einer vom guten Weg abgekommenen, also moralisch entgleisten Dame der Halbwelt sein Leben verbringt und sein Glück findet. Hier verlangt ein auf bürgerliche Reputation bedachter älterer Herr von der Schwiegertochter in spe den Verzicht auf ihr eigenes Glück und auf die endlich gefundene grosse Liebe ihres Lebens.
Die tragische Geschichte dieser Violetta Valéry geht zurück auf den Roman «La dame aux Camélias» von Alexandre Dumas, Sohn, der 1848 in Paris einen sensationellen Erfolg hatte und 1852 von diesem auch zu einem nicht weniger erfolgreichen Theaterstück verarbeitet wurde. Das Thema der «anständigen Kurtisane» oder der «ehrbaren Dirne» wurde in einem von falscher Moral und prätendiertem Anstand verpesteten Bürgertum immer virulenter. Verdi hatte eine Nase für Themen, welche die Doppelmoral in Kirche und Staat anprangerten. Die Welt der Künstler, zumal auch in weiblicher Gestalt, schien ihm die richtige Folie, um echte Liebe und romantische Leidenschaft gegenüber den Konventionen von bürgerlicher Ehe und Familie abzuheben und zum Leuchten zu bringen.
So beauftragte er den Librettisten Francesco Maria Piave mit dem Dumas-Stoff und im März 1853 konnte man Verdis neuestes Werk bereits auf der Bühne vom Teatro la Fenice in Venedig erleben. Diese Aufführung wurde zunächst alles andere als ein Erfolg, insbesondere wohl wegen einer unpassenden Besetzung der Hauptfigur mit einer derart korpulenten Sängerin, dass man den Tod an Schwindsucht einer von Krankheit und Liebeskummer ausgezehrten und verlöschenden Violetta im letzten Akt für vollkommen unglaubwürdig und lächerlich hielt. Verdi bearbeitete das Stück leicht, besetzte es um, und hatte im Teatro San Benedetto auch in Venedig bereits im Mai 1854 eine neue Traviata, mit überwältigendem Erfolg, der weltweit bis zum heutigen Tag anhalten sollte und aus seiner «Traviata» wohl die populärste unter seinen Opern werden liess.
Eine unerwünschte Begegnung
Die Begegnung zwischen Vater Germont und Violetta findet im 2. Akt der Oper statt. Der Mann präsentiert sich als der Vater ihres gegenwärtigen Liebhabers Alfredo und verlangt von Violetta nichts Geringeres, als dass sie auf die Liaison mit seinem Sohn verzichte. Dieser sei durch sie «verdorben» worden und renne damit in sein eigenes und seiner Familie Unglück. Vater Germont zieht alle Register, um von Violetta den Verzicht auf die Verbindung mit seinem Sohn zu erzwingen. Da kann Violetta noch so sehr darauf beharren, sie habe von ihrer Vergangenheit Abschied genommen, Gott habe ihr das frühere Dasein als Lebedame verziehen, die gegenseitige Liebe zwischen ihr und Alfredo sei echt und unvergänglich.
Germont ist weltgewandt genug, um ihr vor Augen zu führen, dass jede Liebesglut einmal vergehen würde, Langeweile werde diese nach und nach ersetzen, denn der Himmel segne diese Verbindung nicht. Er appelliert an ihren Anstand, an ihre Barmherzigkeit, an ihr Mitleid: Grössere moralische Keulen kann man gar nicht ins Feld führen, um eigene Ziele zu erreichen. Am Ende wird Violetta nachgiebig werden und in dieses Opfer einwilligen, auf Alfredo verzichten, wenn auch unter Tränen, und in der Vermutung, dieser Verzicht auf die Liebe ihres Lebens werde über kurz oder lang ihren Tod bedeuten.
Im letzten Akt erleben wir dann tatsächlich den Tod Violettas, die Versöhnung mit Alfredo und sogar jene mit Vater Germont, der im Verzicht der Kurtisane endlich ihre Herzensgrösse erkennt und sie nun wie seine eigene Tochter umarmen will. «Troppo rimorso l’alma mi divora! – Die Reue zerfrisst mir die Seele», gesteht Germont seinem Sohn. Die Todeskrämpfe lassen bei Violetta nach. Sie glaubt, sterbend zu neuem Leben zu erwachen. Doch der Arzt stellt fest: «È spenta – ihr Leben ist erloschen.»
Ein Duett der Sonderklasse
Verdi hat im Verlauf seiner Karriere eine Reihe von absolut unvergänglichen Duetten und Ensemble-Szenen zwischen Vätern, ihren Nachkommen oder deren Bezugspersonen komponiert. Zu diesen zählt die Begegnung zwischen Violetta und Vater Germont aus dem 2. Akt seiner «Traviata» mit Sicherheit. Nachdem Germont erreicht hat, was er von Violetta verlangte, singen beide gemeinsam die Worte: «Felice siate! – Mögen Sie glücklich sein!» Kein realistischer Wunsch, weder aus der Sicht von Vater Germont noch aus der einer der Liebe entsagenden Frau.
Wir hören hier eine Konzertaufnahme aus dem Jahre 2006, aufgezeichnet in Moskau, mit Renée Fleming als Violetta und Dmitri Hvorostovsky als Vater Germont, beide in glänzender stimmlicher Verfassung und in ergreifender schauspielerischer Form.