Die SDF (Syrische Demokratische Kräfte) melden, sie hätten die Stadt Tabqa und den dort liegenden Euphrat-Damm endgültig vom IS „befreit“. Gegenwärtig würden Operationen durchgeführt, um die Stadt und ihre Umgebung abzusichern.
Die SDF bestehen aus arabischen und kurdischen Einheiten, die gemeinsam gegen den IS kämpfen und in einer Offensive gegen Rakka stehen, die Hauptstadt des IS in Syrien. Die syrischen Kurden der YPG (Volksverteidigungseinheiten) bilden das Rückgrat der SDF. Die Amerikaner helfen mit bei der Offensive, sowohl durch Luftunterstützung wie auch durch „Beratung“ der Offensivkräfte am Boden. Sie haben Sondertruppen eingesetzt, welche die SDF stützen und begleiten.
Eine nicht rein kurdische Offensive
Die arabischen Komponenten der SDF wurden mobilisiert, bewaffnet und ausgebildet, um zu vermeiden, dass die Offensivkräfte gegen Rakka rein kurdische Einheiten bleiben. Diese arabischen Einheiten wurden von den Amerikanern mit Waffen ausgerüstet.
Die Präsenz von arabischen Kämpfern innerhalb der Offensivkräfte, die auf Rakka abzielen, war aus zwei Gründen notwendig. Rakka ist arabisch bewohntes Gebiet, und es sollte vermieden werden, dass der IS seinen Widerstand dadurch verstärken kann, dass er den Arabern von Rakka erklärt, es gehe darum, zu vermeiden, dass sie von den Kurden erobert und besetzt würden.
Wichtiger war aber der zweite Grund: die Türkei, ein Nato-Verbündeter von Gewicht, sucht seit Jahr und Tag den Amerikanern klar zu machen, dass die Zusammenarbeit mit den kurdischen YPG auf Zusammenarbeit mit der „terroristischen“ PKK hinauslaufe, denn die YPG sei ein blosse Verkleidung der PKK.
Enge Verwandtschaft zwischen PKK und YPG
Die PKK und die Türkei führen seit 1984 Krieg gegeneinander. Dieser ist mehrmals aufgeflammt und dann wieder abgeflaut. In den drei Jahren vor 2015 gab es sogar einen Ansatz zu Friedensgesprächen. Doch seither ist der Guerilla-Krieg zwischen der PKK und der türkischen Regierung wieder voll ausgebrochen, und er tobt gegenwärtig grausamer und schärfer als je seit seinem Höhepunkt in den 90er Jahren.
Für Ankara sind die PKK-Leute Terroristen. Auch die USA und manche europäische Staaten haben sie als solche eingestuft. Dass eine enge Zusammenarbeit und ideologische Verwandtschaft zwischen der türkischen PKK und den syrischen YPG besteht, lässt sich nicht abstreiten.
Doch die YPG ist in einen aktiven Krieg mit dem IS in Syrien verwickelt, seitdem der „Islamische Staat“ im Sommer 2014 die syrisch-kurdische Stadt Kobane an der türkischen Grenze mit Syrien überfiel, belagerte, teilweise eroberte, jedoch schliesslich im Januar 2015 mit Beihilfe der amerikanischen Koalition zur Luft und mit der Unterstützung eines kleinen Hilfskorps der irakischen Kurden, der Peschmerga, zurückgeschlagen und aus Kobane, Stadt und Provinz, vertrieben wurde.
Öcalan – gefangener kurdischer Führer
Seither haben die Truppen der YPG weite Gebiete des syrischen Nordens dem IS entrissen, und sie beherrschen nun eine mehrheitlich kurdisch bewohnte breite Zone an der türkischen Grenze, die sie Rodshjawa nennen und nach den Grundsätzen zu verwalten suchen, die Abdullah Öcalan, der Gründer der PKK, entworfen hat.
Öcalan ist in der Türkei zum Tode verurteilt worden, wurde aber nicht hingerichtet. Er sitzt seit 1999 in Einzelhaft in einem türkischen Gefängnis auf der Marmara-Insel Imrali. Öcalan huldigte einst dem Maoismus. Doch er hat seine Haltung in der Gefangenschaft revidiert. Heute fordert er nicht mehr Unabhängigkeit für die Kurden, sondern Autonomie mit einer starken und demokratisch organisierten kurdischen Lokalverwaltung in allen kurdischen Gebieten in der Türkei, in Syrien, im Irak und in Iran.
Die Kämpfer der PKK und der YPG anerkennen Öcalan nach wie vor als ihren legitimen Führer und Ideologen. Im Falle der irakischen Kurden, die ihre Autonomie de facto und de jure besitzen, ist dies nicht der Fall. Sie haben ihre eigenen Anführer mit familiären und historischen Wurzeln im Freiheitskampf, den sie in erster Linie gegen Bagdad geführt und schlussendlich nach vielen schweren Rückschlägen gewonnen haben.
Die Aktionsgemeinschaft der YPG mit den USA
Die türkische Regierung sieht seit den Kämpfen der syrischen Kurden um ihre Stadt Kobane mit wachsender Unruhe zu, wie die Amerikaner die syrisch-kurdischen Kämpfer der YPG unterstützten und wie diese weite Gebiete südlich der türkischen Grenze dem IS entrissen und sich ihrer bemächtigten.
Auf der türkischen Seite der Grenze leben auch Kurden, und Ankara fürchtet den Einfluss eines weitgehend selbstständigen Kurdengebietes südlich der Grenze auf die eigenen Kurden, umso mehr als eine Zusammenarbeit der PKK mit den YPG sowie eine gemeinsame Ideologie und Anhängerschaft an den gefangenen Öcalan nicht zu leugnen sind.
Die türkische Militäraktion auf syrischem Boden
Seit dem August des vergangenen Jahres protestiert die Türkei nicht nur gegen die Zusammenarbeit der YPG und der Amerikaner. Sie ist auch zur Tat geschritten, indem sie einen Abschnitt der langen türkisch-syrischen Grenze und sein Hinterland, die sich noch in den Händen des IS befanden, militärisch besetzte. Dieser Abschnitt liegt zwischen zwei kurdisch beherrschten Gebieten an der türkischen Grenze, nämlich zwischen der kurdischen Enklave von Afar im Westen und dem Hauptgebiet von „Rodshawa“ im Osten, das die syrischen Provinzen von Kobane und Hassakeh umfasst.
Die türkische Armee handelt auf der syrischen Seite der Grenze nicht alleine. Sie hat syrische Verbündete als Hilfstruppen eingesetzt, die zu der Rebellenfaktion gegen Asad, der FSA (Freien Syrischen Armee), gehören. Türkische Artillerie und die türkische Luftwaffe unterstützen sie.
Grenzen für Ankaras „Schutzschild Euphrat“
Amerikaner und Russen liessen die Türken zunächst gewähren. Doch beide Mächte schritten bremsend ein, als die türkische Armee und ihre Hilfskräfte nach langdauernden Kämpfen im Februar dieses Jahres die Stadt al-Bab dem IS entrissen und Erdogan erklärte, seine Militärkräfte wollten darüber hinaus östlich bis nach Membidsch und weiter bis an den Euphrat vordringen.
Ankara sah sich zum Anhalten gezwungen und erklärte daraufhin, seine Aktion in Nordsyrien, die den Namen „Schutzschild Euphrat“ erhalten hatte, sei beendet. Doch wenn es notwendig werde, seien neue Initiativen denkbar. In der Tat bombardierten türkische Kampfflugzeuge am 28. April und erneut in den Tagen danach erstmals und überfallartig Positionen der YPG in der Provinz Hassake, nah an der türkischen Grenze, und verursachten Dutzende von Todesopfern.
Jetzt offiziell: US-Waffen für die syrischen Kurden
Das amerikanische Verteidigungsministerium hat am 9. Mai bekanntgegeben, dass es den Kämpfern der YPG die Waffen liefern werde, die für eine Eroberung von Rakka notwendig seien. Bisher hatten die Amerikaner nur den arabischen Einheiten der SDF diskret Waffen geliefert. Dies waren offenbar leichte Waffen. Doch nun sollen auch die syrischen Kurden der YPG Waffen erhalten. Dem Vernehmen nach seien darunter auch schwere Maschinengewehre und gepanzerte Fahrzeuge.
Die Waffenlieferungen an die YPG machen sehr klar, was die USA zuvor schon verbal erklärt hatten. Für Washington sind die syrischen Kurden der YPG unentbehrlich, um den Kampf gegen den IS in Syrien zu führen. Ankara bietet zwar beständig an, türkische Truppen könnten an Stelle der YPG-Kämpfer mit den Amerikanern zusammenarbeiten, um Rakka zu befreien.
Amerikanische Vorbehalte gegen Ankara
Doch die Amerikaner sind darauf nie eingegangen: Sei es, weil die Amerikaner die syrisch-kurdischen Kämpfer als die kampfgeübteren und bewährteren Soldaten ansehen. Oder sei es weil sie ihre bisherigen Partner, die syrischen Kurden, nicht im Stich lassen wollen. Möglicherweise hat dies auch damit zu tun, dass Washington die türkische Armee nach dem Putsch vom Juli 2016 und den darauf folgenden politischen „Säuberungen“ als geschwächt ansieht.
Oder auch damit, dass die Amerikaner den politischen Folgen misstrauen, die eine Zusammenarbeit mit den türkischen Nachbarn Syriens auf syrischem, nicht türkischem, Hoheitsgebiet nach sich ziehen könnte. Im Falle der YPG handelt es sich immerhin um autochthone, in diesen Gebieten heimische Völker.
Der Zeitpunkt der amerikanischen Ankündigung von Waffenlieferungen war wohl dadurch bedingt, dass die SDF mit ihren arabischen und ihren kurdischen Einheiten nach der Eroberung des Vorpostens Tabqa unmittelbar vor der Belagerung von Rakka selbst steht und dass sie nun auf die für den Entscheidungskampf notwendigen schwereren Waffen angewiesen ist.
Laute Proteste Erdogans
Die Türkei hat auf die Ankündigung des Pentagons scharf reagiert. Präsident Erdogan hat erklärt, er persönlich werde am 16. Mai, wenn er Präsident Trump in Washington besuche, darauf dringen, dass der amerikanische „Fehltritt“ wieder berechtigt werde. „Ich werde persönlich unsere Sorgen erklären“, sagte er, „wenn ich mit Präsident Trump sprechen werde. Wir möchten annehmen, dass unsere Verbündeten im Westen es vorziehen, Seite an Seite mit uns zu stehen statt mit terroristischen Gruppen. Es ist eine Sache der nationalen Sicherheit der Türkei!“
Die Untergebenen Erdogans schlugen noch schärfere Töne an. Ihre Aussagen waren in erster Linie für das türkische Publikum bestimmt. Ein Stellvertretender Ministerpräsident namens Nurettin Canikli sagte: „Wir können das nicht akzeptieren, wir hoffen, die Vereinigten Staaten werden dies beenden und eine solche Politik aufgeben.“ Es könne nicht nützlich sein, ein Bündnis mit einer terroristischen Organisation einzugehen. Der türkische Aussenminister Cavusoglu fügte hinzu: „Eine jede Waffe, die sie in die Hand bekommen, bildet eine Bedrohung für die Türkei.“
Beruhigungsversuche des Pentagons
Die Sprecher des Pentagons sagen, die türkischen Sorgen seien ihnen sehr bewusst. Sie behaupten, die Waffen und Munition würden so dosiert werden, dass sie nur gerade für die Belagerung und Eroberung von Rakka ausreichten. Auch würden die Waffen nach der Eroberung zurückgenommen („rekuperiert“) werden. Man kann vermuten, dass Trump, wenn er mit Erdogan am kommenden Dienstag zusammentrifft, ähnliche Beschwichtigungsversuche unternehmen wird.
Erdogan hat auch schon erklärt, er werde nach seinem Besuch in Washington bei der NATO in Brüssel vorstellig werden. Doch letztlich kann Erdogan nicht viel gegen den amerikanischen Entscheid unternehmen. Wenn er Schritte tut, um seinen amerikanischen Verbündeten zu brüskieren, etwa indem er ihm verbietet, die Luftbasis von Incirlik zu benützen, schadet er letzten Endes sich selbst. Er würde sich der Möglichkeit berauben, zwischen den Russen und den Amerikanern zu lavieren, fände sich ganz auf die Unterstützung durch die Russen angewiesen und müsste gewärtigen, dass diese ihrerseits Druck auf ihn ausüben, ohne dass er auf Gegendruck von amerikanischer Seite zu zählen vermöchte.