Unlängst liess eine Frau auf Twitter buchstäblich ihre Sexphantasien galoppieren, als sie sich offen darüber äusserte, was sie so alles mit einem Hengst treiben könnte. Erwartungsgemäss zog sie einen Shitstorm auf sich. Dabei hatte die Frau gar nicht sodomistische Anwandlungen. Sie wollte nur den moralischen Commonsense mit einer Frage über die Ethik der Tierbehandlung aufstören. Missbrauch von Pferden gehört zum Alltag von Farmen, etwa in Südamerika, und die Praktiken sind teilweise widerlich, aber dennoch essen wir das Fleisch – warum ekeln wir uns vor dem Sexualverkehr mit einem Tier? Was ist eigentlich verwerflicher: Pferdefleisch essen oder mit Pferden kopulieren?
Es geht nicht um Pferde, sondern um eine ethische und erkenntnistheoretische Frage: Woher wissen wir, was ethisch richtig oder falsch ist? Moral ist immer auch viszeral. Das moralische Urteil liegt auf einem Spektrum zwischen Emotionalität (Ekel) und Rationalität (Begründung). Oft erweist es sich als schwierig, beide überhaupt zu trennen, und oft hält man die Emotion bereits für die Begründung. Dann herrschen bigotter Sittlichkeitssermon und präpotenter Empörungs-Mob. Also genau das, was die unvorsichtige Twitterin mit ihrem Pferdebeispiel erfahren musste.
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Welche Rolle spielen rationale Argumente in der Moral? Wir kennen die Frage von David Hume in seiner «Untersuchung über die Grundlagen der Moral». Er zeigte sich bekanntlich sehr skeptisch gegenüber der Ansicht, es gebe rationale und universelle Mittel, zwischen «gut» und «böse» zu unterscheiden. Stattdessen postulierte er ein moralisches Gefühl oder einen moralischen Sinn, dem solche Unterscheidungen entspringen. Vernunftgründe, schrieb Benjamin Franklin im gleichen skeptischen Geist, hinken hinter der Tat her: «Wie angenehm ist es doch, ein vernunftbegabtes Wesen zu sein, das einen annehmbaren Vorwand für seine Gelüste zu finden oder zu erfinden weiss.»
Moderne Forschungen heben die Bedeutung moralischer Intuition hervor. So schreibt etwa der amerikanische Psychologe Jonathan Haidt, dass viele unserer alltäglichen Entscheidungen «moralisch sprachlos» sind, auf einem intuitiven Gespür für das «Richtige» oder «Falsche» beruhen. Uns ekelt häufig moralisch – etwa vor Inzest, Kinderpornographie, dem Essen totgefahrener Tiere oder auch nur schon vor einem fetten nackten Körper. Haidt weist auf die vorsprachlich erworbenen Muster moralischen Verhaltens hin: auf die «verkörperten Schemata» (embodied schemata), mit denen wir auf moralisch Verwerfliches reagieren. Das Ekelgefühl beginnt in der Regel bei Physischem – Essen oder Tieren – und weitet sich aus auf das Soziale und Ethische – auf Haltungen und Verhalten. Es gibt religiös Strenggläubige, die Andersgläubige widerlich finden. Obwohl solche Reaktionen stark kulturell überformt werden, scheint ihr allgemeines Vorkommen auf eine menschliche Wurzel hinzuweisen. Eine naheliegende Auffassung besagt, dass das Ekelgefühl uns vor Schädlichem, Ungesundem, Giftigem – auch in der Moral – schützt.
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Das zieht sogleich eine weitere Frage nach sich: Ist moralisches Verhalten anerzogen oder angeboren? Man beobachtet ja auch bei anderen sozialen Tierarten eine quasimoralische Ethologie, die zum Beispiel an Altruismus, Solidarität, Empathie beim Menschen erinnert. Es gibt Hardcore-Evolutionisten wie etwa den Neurowissenschafter Sam Harris oder den Zoologen Richard Dawkins, die ethische Probleme prinzipiell nur auf dem Fundament der Evolutionstheorie gelöst sehen wollen. Nun spricht nichts gegen naturwissenschaftliche Argumente in der Ethik, aber man riskiert damit eine evolutionsbiolgische Einäugigkeit, die nicht harmlos sein kann. Das heisst, wir neigen zur Argumentationsfigur: Die Natur hat uns zu Karnivoren werden lassen, deshalb ist Fleischessen ethisch unproblematisch; die Natur hat uns nicht zu Sodomisten werden lassen, deshalb ist Sexualverkehr mit Tieren ethisch verwerflich.
Das heisst, wir fallen hier schnell dem sogenannten naturalistischen Fehlschluss zum Opfer. Denn erstens ist nicht erwiesen, dass der Mensch «naturnotwendig» ein Fleischesser ist. Zweitens folgt daraus, dass etwas natürlich ist, nicht, dass es auch ethisch richtig ist. Dieser Fehlschluss lässt sich drittens leicht dazu missbrauchen, Unliebsames, Störendes, von der Norm Abweichendes als «unnatürlich» und damit als unmoralisch zu disqualifizieren: Frauen, die nicht Mütter sein wollen, homosexuelle Ehen, Suizid, Inzucht oder auch Fleischverzehr.
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In den hier aufgeworfenen Fragen kommen zwei ethische Grundhaltungen zum Vorschein, die rationalistische und die intuitionistische. Die erste Haltung sucht möglichst neutral – im Extremfall rechnerisch – abzuwägen, was ethisch richtig und falsch ist. Das ist eine schwierige Aufgabe, aber keinesfalls eine fruchtlose. Sie kann tiefverwurzelte, «angeborene» moralische Gefühle korrigieren. Sie fordert die selbstgerechte Prüderie und Bigotterie heraus. Sie führt uns vor Augen, dass wir gewöhnlich voreingenommener sind, als wir meinen. Oft verwendet sie Szenarien und Gedankenexperimente der eher drastischen Art, genau wie die Frau mit ihrem Sodomiebeispiel. Vernunft kann durchaus etwas gegen Ekel ausrichten.
Die meisten von uns haben die Aversion gegen Unzucht mit Tieren wahrscheinlich «inkorporiert» und damit den Ekel zu einer quasinatürlichen intuitiven Reaktion gemacht. Leon Kass, der ehemalige Leiter des Beraterstabs für Bioethik unter George W. Bush, vertrat sogar die These von der «Weisheit der Abneigung» («Wisdom of Repugnance»): «Abneigung ist der emotionale Ausdruck einer tiefen Weisheit, jenseits des rationalen Vermögens, sie in Sprache zu artikulieren.» Eine solche These eignet sich freilich als patentes Vehikel zur Pflege von Aversion und Vorurteil, zur Diskriminierung und Ausgrenzung. Angewidertes Schaudern als «Weisheit» zu bezeichnen, mutet schlichtweg zynisch an. Die «Sprachlosigkeit» vieler moralischer Urteile ist kein Freipass für instinktive Reaktion. Eine rationale Ethik kann vielleicht nicht allgemeinverbindliche Gründe für unser Handeln liefern, aber sie nimmt uns in die Pflicht, unsere Bauchgefühle gegebenenfalls in Sprache zu artikulieren. Genau das mahnte uns Immanuel Kant an mit seinem Imperativ – den man eigentlich als unkategorisch betrachten sollte. Ekel – ebenso wie etwa Rache – hat im sozialen, juristischen und ethischen Rahmenwerk einer modernen liberalen Gesellschaft nichts zu suchen. Mit Normen und Gesetzen rotten wir aber diese Gefühle nicht aus, bestenfalls zähmen wir sie. Machen wir sie nur nicht zum moralischen Leitfaden.
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Die Frage bleibt dennoch: Ist nun der Verzehr von Tierfleisch gleich «eklig» wie Sexualverkehr mit einem Tier? Darauf gibt es keine ultimative Antwort, weil ethische Fragen sich nicht von einem neutralen Standpunkt aus entscheiden lassen. Wir sind immer moralisch «voreingenommen». Aber unser Blick auf das Tier wandelt sich. Und gerade ein solcher Wandel kann auch unsere Voreingenommenheiten beeinflussen. Wir betrachten zumindest höhere Spezies heute als Subjekte artfremden Lebens, nicht bloss als Nutz- und Metzgerware. In der Jurisdiktion spricht man bestimmten Tierarten gar einen «Personenstatus» zu, der das Recht auf artgerechte Behandlung einschliesst, auf Verschontwerden vor Leiden in medizinischen Experimenten, auf einen «würdigen» Tod – warum dann nicht auch auf Autonomie und Schutz vor Unzucht und Vergewaltigung? Ethik legitimiert Verhaltensgewohnheiten. Das tut Ekel nicht, weil er im Grunde auch eine solche Gewohnheit ist. Viele Menschen finden es selbstverständlich und ethisch unbedenklich, im Tier das Objekt gastrischer Lüste zu sehen. Konfrontiert man sie mit dem Tier als Objekt sexueller Lüste, könnten sie aus dieser Unbedenklichkeit gerissen werden. Das ist kein Plädoyer für Sodomie, sondern für gute Gedankenexperimente. Moralisch «verbessern» wir uns nämlich nicht durch einen kategorischen Imperativ, sondern viel eher durch Subversion von Gewohnheiten, die ins Rückenmark gesunken sind. Das gilt nicht nur für den Verzehr von Tierfleisch.