Aber an diesem 8. Mai geschieht genau das. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Coronavirus eine Pandemie auslöst, ist sehr klein. Aber genau das ist geschehen.
Das Unwahrscheinlichkeitsprinzip
Das erste Beispiel ist fiktiv, beim zweiten handelt es sich um die Aussage des amerikanischen Virologen Anthony Fauci am 26. Januar 2020, der damals noch als Berater des Präsidenten fungierte. Beide Beispiele haben eines gemeinsam: Sie rechnen nicht mit dem Unwahrscheinlichen. Aber das Unwahrscheinliche geschieht. Ständig. Wenn es nach unserem Verständnis nicht geschehen kann, dann liegt das an unserem Verständnis, nicht am Lauf der Dinge. Der Zufall hat seine Gründe, sagte der alte Römer Petronius. Wir Menschen kennen sie einfach nicht (alle). Ich kann mir schlicht nicht alle Faktoren vorstellen, die dazu führen, dass mir auf dem Bundesplatz so etwas passiert.
Vom englischen Mathematiker David Hand stammt das sogenannte „Unwahrscheinlichkeitsprinzip“: „Ereignisse, die wir als höchst unwahrscheinlich ansehen, geschehen, weil wir die Sache falsch verstanden haben. Finden wir heraus, wo wir in die Irre gegangen sind, wird das Unwahrscheinliche wahrscheinlich werden.“
Ein notorischer Irrtum
Denken in Wahrscheinlichkeiten führt uns notorisch in die Irre. Und Irrtümer infizieren auch die Information in den Medien. Typisch ist die Betrachtung aus der Einzelperspektive. Kürzlich war in einer Schweizer Tageszeitung zu lesen, dass die Replikationsrate auf 0.9 gesunken sei. Kommentar: „Ein Infizierter steckt weniger als eine Person an.“ – „Weniger als eine Person“? Was hat man sich darunter vorzustellen? Gibt es halbe, dreiviertel, elfzwölftel Personen?
Betrachten wir ein triviales Beispiel. Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich in der Schweiz durch einen Verkehrsunfall umkomme? Machen wir eine Überschlagsrechnung. Die Statistik sagt uns, dass es im Jahr 2019 187 Verkehrstote gab. Die Schweiz zählt etwa 8.5 Millionen Einwohner. Die Wahrscheinlichkeit beträgt also 0.002 Prozent (187/ 8‘500‘000). Die Zahl ist verschwindend klein, ergibt aber keinen Sinn, wenn ich sie auf mich als Einzelperson beziehe: Bin ich 0.002 Prozent Schweizer? Die Zahl ergibt Sinn, wenn ich ihren Kehrwert betrachte: 2019 kam von 42‘500 (= 8‘500‘000/ 187) Schweizern einer durch einen Verkehrsunfall um. Nimm eine genügend grosse zufällig ausgewählte Teilmenge der Schweizer Bevölkerung, und das Unwahrscheinliche geschieht mit Gewissheit bei jemandem (hoffentlich nicht bei mir).
Size matters
Es geht hier nicht um Zahlen, sondern um die Denkweise. Sie hat uns auch beim Coronavirus in die Irre geführt. Es erscheint sehr unwahrscheinlich, dass das Virus auf zufällige Weise von irgendeiner Fledermaus auf irgendeinen Menschen überspringt. Sagen wir, Schätzungen sprechen von 1 zu einer Million. Aber das ist eine zu isolierte, abstrakte Sicht. Entscheidend ist, auf welche Bezugsmenge man sie anwendet. Betrachtet man 11 Millionen Menschen in Wuhan, beläuft sich die Wahrscheinlichkeit schon auf 1 zu 11. Das Überspringen eines Virus auf einen einzelnen Menschen mag für sich betrachtet ein extrem unwahrscheinliches Einzelereignis sein, aber das bedeutet nicht, dass dieses Ereignis bei einer genügend grossen lokalen Bevölkerungsdichte alarmierend wahrscheinlich wird. Und es braucht zudem ein einziges extrem unwahrscheinliches Virus, um eine Epidemie auszulösen.
Unwahrscheinliches Glück
Wir kennen den Ausdruck „unwahrscheinliches Glück“. Ich begebe mich auf eine abenteuerliche Bergwanderung. Später, unbeschadet zurückgekehrt, trumpfe ich auf: Ich hätte in einem gewaltigen Gewitter vom Blitz getroffen werden, in einen Murgang geraten, ich hätte mich verirren oder in einen Abgrund stürzen, ich hätte verhungern oder erfrieren – kurz: ich hätte nicht zurückkehren können. Dieses Narrativ betrachtet Unwahrscheinlichkeit in der Rückschau, aus der Position der Gewissheit, des Heimgekehrten. Ich liste die möglichen Ereignisse auf, „wie es hätte anders kommen können“, und je grösser deren Zahl, desto „unwahrscheinlicher“, sprich aussergewöhnlicher meine Wanderung. Es handelt sich also um den Trick, einen Normalfall zu einem einzigartigen hochzustilisieren.
Streng genommen ist das keine Wahrscheinlichkeitsüberlegung, denn diese erfolgt stets aus der Position der Ungewissheit. Oft in betrügerischer Absicht, wie etwa bei jenem Schützen, der auf eine Scheunenwand schiesst, um dann die Zielscheibe dort hinzumalen, wo die Kugel eingeschlagen ist. Er erweckt so den Eindruck eines „unwahrscheinlich“ guten Schützen. Man spricht von „Rückschaufehler“. Zufälle in der Rückschau sind keine Zufälle, sondern eben real gewordene Möglichkeiten.
Warum gibt es uns, wenn wir so unwahrscheinlich sind?
Er unterläuft uns häufiger, als uns das vielleicht bewusst ist. Auch in den Naturwissenschaften. Dass es uns Menschen mit Bewusstsein gibt, ist gewiss: Wahrscheinlichkeit = 1 (sehen wir dabei ab von exotischen Anthropologien, die den Menschen als Zombie beschreiben). In der Rückschau auf die Geschichte des Universums kommt uns diese Gewissheit in dem Masse „unwahrscheinlicher“ vor, in dem wir auf immer mehr Zufälligkeiten in der kosmischen Vergangenheit stossen, angefangen beim Big Bang, über die Erzeugung der Elementarteilchen, der Atome, Moleküle, der Galaxien und Galaxienhaufen, der Koinzidenz von „günstigen“ Bedingungen für die Entstehung unseres Sonnensystems, des Lebens auf unserem Planeten, der Evolution des menschlichen Bewusstseins aus rund 10 hoch 27 bewusstlosen Molekülen – eine letztlich unseren Verstand übersteigende Kette unwahrscheinlicher Feinabstimmungen. Viele meinen sie nur so erklären zu können, dass sie das naturalistische Narrativ mit supranaturalistischen Zusatzannahmen anreichern: Gott, Intelligent Design, Panpsychismus, oder ein „anthropisches Prinzip“. Letzteres ist eine Art kosmisches Murphy-Gesetz: Unglaublich viel hätte „schieflaufen“ können. Das heisst, die Wahrscheinlichkeit, dass es uns nicht gibt, ist im naturalistischen Kosmos-Narrativ sehr gross, nahezu 1. Deshalb ist es äusserst unwahrscheinlich, dass es uns gibt. Aber nun gibt es uns, ergo kann es kein Zufall sein, dass es uns gibt. Wir Menschen sind „unwahrscheinlich“ exzeptionell. Erinnert uns das nicht an die Geschichte des Bergwanderers? Wäre er nicht zurückgekehrt, könnte er auch nicht von seiner „unwahrscheinlichen“ Heldentat prahlen. So zimmert man Wunder.
Das Unwahrscheinliche der ersten und der zweiten Art
Es gibt das Unwahrscheinliche der ersten Art: Zufallssituationen, in denen wir alle Möglichkeiten kennen. Bekannte Unbekannte. Meist handelt es sich um relativ künstliche Spiel-Arrangements. Zum Beispiel der Münzwurf: zwei Möglichkeiten, Kopf oder Zahl; der Würfelwurf: sechs Zahlen; das Zahlenlotto: über 31 Millionen Möglichkeiten, aus 42 Zahlen sechs richtige und aus sechs Zusatzzahlen eine richtige auszuwählen. Reale Situationen sind aber – wenn man so will – „offene“ Spiele, sie sind gerade nicht so „konstruiert“, dass ihr Horizont alle möglichen Ereignisse umfasst. Jenseits liegen die unbekannten Unbekannten. Das ist das Unwahrscheinliche der zweiten Art. Mit ihm ist zu rechnen. Ständig. Der Eigensinn der Welt ist zu gross, als dass er sich mit unserem bisherigen Verständnis zähmen liesse. Das gilt nicht zuletzt für die Welt der Viren.
Das Zeitalter der Ungewissheit
Wenn wir in die Zukunft schauen, schauen wir eigentlich stets in die Vergangenheit, das heisst, wir projizieren das Bekannte hinter uns auf das Unbekannte vor uns. Ohne Zweifel lässt sich aus der Vergangenheit vieles lernen – ja, müssen wir vieles lernen –, aber bilden wir uns nur nicht ein, die Gewissheiten der Vergangenheit auf die Zukunft übertragen zu können. Die Retrospektive ist immer perfekt. Die Prospektive deplorabel.
Wir leben im Zeitalter der Ungewissheit. Und dies trotz all der raffinierten Diagnose- und Prognosetechnologien, der simulierten Zukunftsszenarien, der Trendkalkulationen und des Risikomanagements, der ungeheuren Datenmengen und statistischen Hochrüstung – immer lauert das Unwahrscheinliche. Das klingt wie eine Drohung, ist aber im Grunde ein Trost. Oder vielmehr ein Appell zur Bescheidenheit: Habe den Mut, einzugestehen, dass du den Lauf der Dinge zu wenig verstehst.
Ein Witz als Coda
Im Berner Bahnhof steht ein Mann vor dem Stadtplan. Er sieht darauf einen kleinen roten Pfeil und liest „Ihr Standort“. Er fragt sich tief bestürzt: Woher zum Teufel kennt die SBB meinen Standort?