An Bord des in der Nacht zum Sonntag vor der libyschen Küste gekenterten Kutters sollen sich 950 Menschen befunden haben, darunter 50 Kinder. Das erklärte ein junger Überlebender aus Bangladesh.
Das jetzige Drama übertrifft die bisher schlimmste Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer, die sich am 3. Juni 2013 ereignet hatte. Damals starben 366 Menschen.
Am Sonntag hatten die italienischen Behörden noch von möglicherweise über 700 Toten gesprochen.
"Hekatombe ohne gleichen"
Laut Angaben von Carlotta Salmi, einer Koordinatorin und Sprecherin des Uno-Hochkommissariats für das Flüchtlingswesen (Unhcr) sei das gekenterte Boot „etwa 20 Meter lang“ gewesen. „Schon 700 Insassen wären eine enorm hohe Zahl für einen solchen Kutter“. Sollten sich die Angaben des im Spital von Catania befragten und schwer verletzten 32-jährigen Überlebenden aus Bangladesh bewahrheiten, müsste von rund 900 Toten ausgegangen werden. Bisher sind nur 28 Menschen lebend geborgen worden.
Carlotta Salmi spricht von einer „unvorstellbaren Tragödie“ und einer „Hekatombe ohne gleichen“.
Das Unglück ereignete sich um Mitternacht in der Nacht zum Sonntag 73 Seemeilen nördlich der libyschen Küste. Die italienischen Behörden erklärten zunächst, das Boot sei in Ägypten gestartet. Nach Angaben des überlebenden Flüchtlings aus Bangladesh stiess der Kutter jedoch etwa 50 Kilometer östlich der libyschen Stadt Tripolis ins Meer.
Offenbar geriet das überfüllte Schiff in Seenot und setzte einen Notruf ab. Daraufhin näherte sich das portugiesische Containerschiff „King Jakob“ dem Boot. Anschliessend sollen sich dramatische Szenen in dem Flüchtlingsschiff abgespielt haben. Die meisten Flüchtlinge hätten sich auf die gleiche Seite des Bootes begeben, um der ankommenden „King Jacob“ zuzuwinken. Daraufhin sei der Kutter gekentert. Viele Flüchtlinge, die nur wenig für die Überfahrt bezahlen konnten, seien von den Schleppern unter Deck eingesperrt worden; sie haben offenbar gar nicht mitgekriegt, was geschah.
Noch mehr Flüchtlinge erwartet
Die Suche nach Überlebenden ging auch am Montagvormittag weiter. 17 Schiffe, die unter dem Kommando der italienischen Küstenwache stehen, nehmen zurzeit an der Rettungsaktion teil.
Die aus dem Wasser gefischten Ertrunkenen sind inzwischen nach La Valletta auf Malta gebracht worden. Die meisten der wenigen Überlebenden trafen in Catania auf Sizilien ein.
Seit Anfang des Jahres sind 1‘650 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken. Das Unhcr geht davon aus, dass diese Zahl in den nächsten Sommermonaten stark ansteigen wird, denn „die Kriege in Libyen und im Nahen Osten gehen weiter“.
Schlag gegen eine Schlepperbande
Am Montagvormittag hat die sizilianische Polizei nach eigenen Angaben in Mineo auf Sizilien die Chefs einer Schlepperbande festgenommen. Die Zelle bestand aus Eritreern, Äthiopiern, Guineern, Ghanaern und Ivorianern. Sie soll schon verantwortlich für die Flüchtlingskatastrophe am 3. Oktober 2013 gewesen sein.
Mineo, das zwischen Catania und Caltagirone liegt, ist das grösste Flüchtlingsauffangzentrum auf Sizilien. Wie weit die Bande im Zusammenhang mit der jetzigen Katastrophe steht, ist unklar.
Krisentreffen, Gipfeltreffen
Der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi hat alle Termine abgesagt und mehrere Minister zu einem Krisentreffen aufgeboten. Frankreichs Präsident François Hollande forderte die EU auf, „endlich ohne zu Zögern zu handeln“. Federica Mogherini, die Aussenbeauftragte der EU, hat für Montagnachmittag in Luxemburg ein Krisentreffen der EU-Innen- und –Aussenminister einberufen.
Donald Tusk, der Präsident des EU-Rates, führt im Moment Konsultationen und will für Donnerstag ein EU-Gipfeltreffen einberufen. Auch Papst Franziskus forderte während des „Angelus“ am Sonntag die EU auf, Massnahmen zu ergreifen. "Sie fliehen vor Kriegen und Armut und suchen das Glück", sagte der Papst. Renzi erklärte am Montagmorgen in einem Radio-Interview: „Wir müssen verhindern, dass das Mittelmeer zu einem Friedhof wird. Wir müssen das Problem an der Wurzel in Libyen selbst anpacken“.
"Dumme Sprüche"
Matteo Salvini, der Chef fremdenfeindlichen rechtspopulistischen Lega Nord, forderte einmal mehr, eine internationale Schiffsblockade vor der libyschen Küste. So sollen Flüchtlingsboote gehindert werden, in den Kanal von Sizilien zu gelangen. Das jetzige Drama sei eine „angekündigte Tragödie“ gewesen. Für weitere Tote machte er Renzi und „falsche Gutmenschen“ verantwortlich. Der Turiner Erzbischof Severino Poletto erklärte, Salvini solle „mit seinen dummen Sprüchen aufhören“.
(J21)