Seit Wochen vergeht kein Tag, ohne dass in Caracas oder anderswo in Venezuela Tausende von Studenten und weiteren Regierungsgegnern auf die Strasse gehen. Ihre Proteste richten sich gegen die anhaltende Wirtschaftskrise, die Knappheit von Gütern des täglichen Bedarfs wie beispielsweise Milchpulver, Toilettenpapier oder Mehl, steigende Preise, die ausufernde Kriminalität und die grassierende Korruption. Die Kundgebungen beginnen in der Regel friedlich, arten aber immer wieder in gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten aus.
Schon mindestens neun Tote
Bei den Zusammenstössen in Caracas beobachteten Augenzeugen, dass regelmässig Gruppen auf Motorrädern auftauchten, die nicht zu den regulären Polizeieinheiten gehören und auf Demonstranten schossen. Der im vergangenen Jahr verstorbene Präsident Hugo Chávez hatte diese so genannten Colectivos mit Waffen ausgestattet, um, wie er sagte, seine sozialistische Revolution zu schützen, falls die USA eine Invasion planen sollten. Sein Nachfolger Nicolás Maduro hat in den letzten Tagen zwar mehrmals betont, dass er auch von dieser Seite keine Gewalt dulde. Es sieht aber nicht so aus, als wären die staatlichen Organe in der Lage, die radikalen paramilitärischen Gruppen zu kontrollieren. Nach Einschätzung von Menschenrechtsorganisationen sind die Colectivos mitverantwortlich, dass Venezuela weltweit eine der höchsten Mordraten hat.
Bisher sind bei den Unruhen mindestens neun Menschen getötet worden. Von den 137 teils schwer Verletzten sind laut Medienangaben über hundert Zivilisten. Regierung und Opposition schieben sich gegenseitig die Schuld für die Eskalation der Gewalt in die Schuhe.
Der Sündenbock «Gringo»
Staatschef Maduro hat von Anfang an zu verstehen gegeben, dass er mit aller Härte gegen die Proteste vorgehen werde. Er bezeichnet die Demonstrationen als versuchten Staatsstreich und beschuldigt die USA, mit den «faschistischen» Drahtziehern der regierungsfeindlichen Bewegung unter einer Decke zu stecken. Dem spanischsprachigen Kanal des US-Nachrichtensenders CNN warf er vor, Kriegspropaganda zu betreiben mit dem Ziel, ein Eingreifen der «Gringo-Armee» – lies: der US-Streitkräfte – zu provozieren. Die Behörden haben der Korrespondentin des Senders die Akkreditierung entzogen. Darüber hinaus leiteten sie einVerfahren ein, um den CNN-Kanal aus dem venezolanischen Kabelnetz zu nehmen, wenn dieser seine Berichterstattung nicht ändere.
Eine Woche zuvor hatten sie bereits den kolumbianischen Privatsender NTN24 wegen «manipulativer Berichte» über die Proteste entfernen lassen. Auch sonst ist die Medienfreiheit stark eingeschränkt. Informationen und Meinungen verbreiten sich immer häufiger über soziale Netzwerke; dabei ist es für Aussenstehende meist schwierig, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden.
Gelogen wird auf beiden Seiten. Die Regierung sitzt im Propagandakrieg jedoch eindeutig am längeren Hebel. Der Nachrichtendienst Twitter wurde zeitweise blockiert, und in der Umgebung der Stadt San Cristóbal hat die Regierung die Verbindung zum Internet abgeschnitten. Dort hatten die Proteste ihren Anfang genommen, nachdem es auf dem Universitätscamp eine versuchte Vergewaltigung einer Studentin gegeben hatte. Am Freitag schickte Maduro Fallschirmjäger in die Stadt im Westen des Landes. Die Soldaten sollen die Zugänge zur Hauptstadt des Bundesstaats Táchira sichern, sagte ein Regierungssprecher.
Venezuela war schon vorher gespalten
Mit jedem Tag, den die Auseinandersetzungen länger dauern, wird die Kluft in der venezolanischen Gesellschaft grösser. Das Land war schon unter Hugo Chávez, der den südamerikanischen Staat 14 Jahre regierte, gespalten. Auch zu seiner Zeit organisierten sowohl seine Gegner als auch seine Anhänger immer wieder Massenkundgebungen, an denen nicht bloss hasserfüllte Parolen aufeinander prallten. Die beiden Gruppen waren sich spinnefeind. Chávez’ Bewunderer feierten ihn als eine Art Messias. Er selbst sah sich als unerschrockener Wegbereiter eines Sozialismus des 21. Jahrhunderts und verunglimpfte jeden, der seine revolutionären Ideen in Frage stellte, als geldgierigen Oligarchen und Steigbügelhalter der USA. Seine politischen Widersacher wiederum brandmarkten ihn als roten Teufel in Menschengestalt und verlängerten Arm der Brüder Fidel und Raúl Castro in Kuba.
Maduro ist nicht Chávez
Dennoch: Obwohl die Fronten verhärtet waren und Chávez in der Wirtschaftspolitik unzählige Fehler beging, blieb das Land regierbar. Ein Putsch gegen ihn im April 2002 scheiterte kläglich. Ob es jetzt auch Maduro gelingen wird, wieder Stabilität herzustellen, lässt sich im Augenblick schwer abschätzen. Er ist keine charismatische Figur wie sein Vorgänger und kann nicht auf den gleichen starken Rückhalt zählen wie dieser – weder in seiner eigenen Partei noch im Volk.
Der Ärmeren in der Bevölkerung verehrten Chávez, weil er sich mehr als jeder vorherige venezolanische Präsident für sie einsetzte, ihnen Würde und Selbstachtung verlieh. Sein Erbe Maduro, der im vergangenen Jahr die Präsidentenwahl nur knapp gegen den konservativen Herausforderer Henrique Capriles gewann, hat eine weit schwächere Position. Laut einer dieser Tage veröffentlichten Meinungsumfrage sind nur noch 23 Prozent der Landsleute mit seiner Amtsführung einverstanden, mehr als 60 Prozent sind unzufrieden darüber, wie er die Geschicke des Landes lenkt.
Galoppierende Inflation und drastisch reduzierte Löhne
Schlimm ist für ihn vor allem, dass ihm inzwischen nicht mehr nur von rechten politischen Gruppierungen und aus der Mittelklasse Opposition erwächst, sondern auch von Arbeitern, deren Lebensbedingungen sich in den letzten Monaten verschlechtert haben. 2013 stieg die Inflation auf über 50 Prozent, stärker als in jedem anderen lateinamerikanischen Land. Die Reallöhne sanken gleichzeitig drastisch durch die staatlichen Abwertungen. Fehler der Regierung in der Wirtschaftspolitik führen derweil zu immer schlimmeren Versorgungsengpässen. Die Regale in den Supermärkten sind leer, selbst Grundbedürfnisse können nur sehr beschränkt befriedigt werden.
Beschimpfungen anstatt Dialog
Die Lage wird sich weiter verschlechtern, wenn der Konflikt nicht bald zumindest eingedämmt wird. Zurzeit deutet jedoch nichts auf ein Ende der Krise hin. Präsident Maduro scheint voll auf eine Politik der Unnachgiebigkeit zu setzen und lieber an seinen Verschwörungstheorien festzuhalten als über die tieferen Ursachen der Protestwelle nachzudenken. Er wird nicht müde, Regierungsgegner mehr oder weniger kollektiv als Faschisten zu brandmarken und ihnen Putschgelüste zu unterstellen.
Hardliner in der Opposition dürften insgeheim tatsächlich mit einem Staatsstreich geliebäugelt haben. Der Anführer der konservativen Partei Voluntad Popular, Leopold López, hat mehrmals erklärt, dass man nicht bis zur nächsten Wahl warten könne, um den «Diktator» Maduro loszuwerden. Die Regierung sieht in ihm einen der geistigen Urheber der Gewalteskalation bei einer der ersten Kundgebungen in Caracas. Da die venezolanische Justiz sich ebenfalls als ein Instrument der bolivarischen Revolution versteht, war es ein leichtes für sie, einen Haftbefehl gegen López zu erwirken. Der 42-jährige Oppositionspolitiker hat sich inzwischen der Polizei gestellt und sitzt in Untersuchungshaft. Die Justiz wirft ihm Brandstiftung sowie Anstiftung zur Gewalt und zur Sachbeschädigung vor. Zunächst war auch des Totschlags beschuldigt worden.
Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft
Es deutet einiges darauf, dass López zumindest im Augenblick in der Opposition mehr Gewicht hat als der gemässigtere Einheitskandidat der Rechten bei den vergangenen Wahlen, Henrique Capriles. Daraus lässt sich aber nicht der Schluss ziehen, dass die Mehrheit der Demonstranten ähnliche radikale Ziele verfolgt wie López. Die Protestbewegung wird zu einem grossen Teil von jungen Menschen getragen, die für bessere Lebensbedingungen kämpfen. Sie sehen für sich in einem Land mit einer rekordhohen Inflation und über 24’000 gewaltsamen Toden im vergangenen Jahr keine Zukunft und drängen deshalb auf Veränderungen.
Mit ihnen müsste Maduro das Gespräch suchen, anstatt sie als Putschisten und Faschisten zu beschimpfen. Der Präsident hat am Wochenende für eine «nationale Konferenz des Friedens» plädiert. Seine bisherigen Reaktionen lassen jedoch daran zweifeln, dass die Fronten tatsächlich aufgeweicht werden können, da für ihn offenbar alle, die nicht ins hohe Lied der bolivarischen Revolution einstimmen, keine politischen Gegner sind, sondern Feinde. – Auch das ist ein Erbe von Hugo Chávez.