Das Erdbeben-Frühwarnsystem in Japan hat gut funktioniert: Bevor die Erdbebenwellen Japan erreichten, wurde Alarm ausgelöst. Auch die Bausubstanz hielt den Erschütterungen vielerorts stand, zerstörend wirkte vor allem der Tsunami. Dagegen könnten eine Fehleinschätzung der Stärke möglicher Beben und eine zu wenig umfassende Risikoanalyse mit Schuld an der ausgelösten atomaren Krise sein.
Das Erdbeben der Magnitude 9 vom 11. März hat aufgrund seiner Stärke erwartungsgemäss einen Tsunami vor der Küste Japans auslöst. Die durch das Erdbeben verursachte Verschiebung der ozeanischen Kruste vor der Küste Sendais liess den Meeresspiegel kurzzeitig um 7,2 Meter anschwellen. Dies massen Messstationen vor der japanischen Küste. Abschätzungen beruhend etwa auf der Höhe der Schutzmauern und wie viel Wasser diese überwinden konnten, so wie beobachtete Effekte, weisen aber laut Experten eindeutig darauf hin, dass die Wasserhöhe lokal deutlich über dem gemessenen Wert lag und eine Tsunamihöhe von «mehr als zehn Meter» eher eine konservative Schätzung ist . Das Meer drang verschiedentlich mehr als vier Kilometer weit ins Landesinnere vor. Nur einige widerstandsfähig konstruierte Gebäude hielten den zerstörenden Wassermassen stand.
Im Atomkraftwerk Fukushima fielen rund eine Stunde nach dem Beben die Notstromgeneratoren aus, was schliesslich zu akuten Kühlverlusten und einem atomaren Notstand führte, der bis heute nicht vollständig unter Kontrolle gebracht werden konnte. Die Folgen sind noch nicht abzuschätzen. Was in Japan geschehen ist und noch immer geschieht und mit welcher Ruhe die japanische Bevölkerung all dies erträgt, ist kaum fassbar. Derzeit wird davon ausgegangen, dass durch die Naturkatastrophe bis zu 20’000 Menschen ihr Leben verloren. Mittel- und langfristig werden im schlimmsten Fall weitere Opfer durch die Folgen einer atomaren Verstrahlung hinzukommen.
Erdbeben - Auslöser der Kettenreaktion
Zwar sind die Auslöser des atomaren Notstands, das Erdbeben und der dadurch verursachte Tsunami, in den Medien inzwischen in den Hintergrund getreten, für die Seismologen gibt es jedoch noch zahlreiche Fragen zu beantworten. Sie analysieren nun das Erdbeben und die Fülle der dabei gewonnen seismischen Daten. Daraus wird sichtbar, dass die Erdbebenmodelle für die Region Sendai und vermutlich auch andernorts entlang der pazifischen Küsten grundlegend angepasst werden müssen. Bis zum Erdbeben vom 11. März hatte man offiziell nicht damit gerechnet, dass in dieser Region derart starke Beben stattfinden können. Das als Tohoku-Erdbeben bezeichnete Beben wird vom US Geological Survey als das viertstärkste Erdbeben gelistet, das sich seit 130 Jahren, seit moderne Messgeräte Erdbeben aufzeichnen, auf unserem Planeten ereignete.
Japan liegt in einer tektonisch hochaktiven Zone, in der die Eurasische, die Philippinische, die Ochotsk-Platte und die Pazifische Platte aufeinander treffen. Dort wo sich die Pazifische Platte unter die von Ochotsk schiebt, kam es zu dem unerwartet starken Beben. In der betroffenen Region ist die abtauchende Pazifische Platte sehr alt und schwer und sinkt mit einer verhältnismässig hohen Geschwindigkeit von 8 bis 10 Zentimetern pro Jahr in den Erdmantel ab. Bis anhin gingen manche Wissenschaftler deshalb davon aus, dass derart starke Erdbeben - wie das fatale von Japan - nur dort entstehen, wo die abtauchende Platte jünger ist und aufgrund ihrer physikalischen Eigenschaften deshalb nicht so «leicht» unter eine anderen Platte abtaucht; für die Region Sendai wurden bis anhin keine Beben stärker als 8.2 erwartet.
Erde aus dem Lot
Der Direktor des Schweizerischen Erdbebendienstes (SED) Domenico Giardini betonte jedoch in einer vom SED organisierten hochinformativen Veranstaltung zum Erdbeben siehe Podcast http://www.multimedia.ethz.ch/misc/2011/sed, dass in einem Gebiet, in dem alle hundert Jahre zehn Meter Krustenplatte subduziert werden, Erdbeben mit einer Magnitude der Stärke 9 unvermeidbar seien; «das Erdbeben hat eine Lücke gefüllt», bei der aufgestaute Energie freigesetzt wurde. Klar sei aber auch, dass das bisherige japanische Modell für die betroffene Region Sendai nicht korrekt sei.
Bis jetzt sei man davon ausgegangen, dass es sich um verschiedene aneinandergereihte «gestückelte» Störungen handle. Jede von ihnen wurde getrennt betrachtet und bezüglich der zu erwartenden Erdbebenstärke auch getrennt eingestuft. Doch nun kam es zu einem Erdbeben entlang der ganzen Linie von Segmenten: Während 150 Sekunden brach die unter tektonischer Spannung stehende ozeanische Kruste vor der Küste Sendais auf eine Länge von circa 300 Kilometern auf. Genau so ungewöhnlich lange hielten die schweren Erschütterungen an – normal dauern diese etwa 5 bis 20 Sekunden, sagt Giardini.
Da der Erdbebenherd sehr gross war, wurden in Japan jedoch schwere Erschütterungen während 120 Sekunden registriert. «Dabei bewegte sich das Japanische Festland in der Provinz Honshu 5 Meter nach Osten und die Pazifische Platte 10 Meter nach Westen.» Durch die enormen Massenverschiebungen wurde die Erdachse um 10 Zentimeter verschoben. Noch über Monate muss mit starken Nachbeben gerechnet werden, die laut Giardini sogar eine Magnitude 8 und mehr erreichen können.
Neue Störungen aktiviert
Der Seismologie-Professor geht aber nicht davon aus, dass diese Nachbeben grössere Probleme verursachen werden. Vielmehr ist er beunruhigt darüber, dass das Beben mindestens zehn weitere, zum Teil gefährliche Störungen in der Region Japans aktiviert hat. Zudem machte Giardini klar, dass die tektonische Situation um Japan seit längerem Rätsel aufgibt. So ereigneten sich in Japan in den vergangenen zehn Jahren fast alle starken Erdbeben dort, wo nur wenige davon erwartet wurden. Hingegen war die Erde da ruhig, wo man mit starken Beben rechnete.
Modelle, die im Pazifik unter Einbezug des Krustenalters für Zentralamerika, Tonga und Japan keine Erdbeben der Magnitude 9 erwarten lassen, müssen nach Ansicht Giardinis daher nun in Frage gestellt werden. Er geht davon aus, dass auch dort solche starken Erdbeben in der Gefahrenkarte berücksichtigt werden müssen.
In seinem Vortrag verglich Giardini das Tohoku-Erdbeben mit jenem von Christchurch vom 22. Februar in Neuseeland mit einer Magnitude 6.3. Dort lag das Erdbebenzentrum näher an der Erdoberfläche und die Bruchzone verlief direkt unter der Stadt. Die Erdbeschleunigung und somit die Kräfte, die auf die Gebäude wirkten, waren deshalb stärker, obwohl die Energie des 9er Bebens in Japan 20'000 mal grösser war. In beiden Fällen sei es aber durch das Erdbeben zu erstaunlich wenigen Schäden an neuen Gebäuden gekommen.
Das liege vor allem an der hochentwickelten erdbebensicheren Bauweise beider Länder, betont der ETH-Emeritus Hugo Bachmann, Experte für erbebensicheres Bauen, auf Anfrage. Bauingenieure Neuseelands hätten das erdbebensichere Bauen in den siebziger Jahren revolutioniert, indem sie in die Tragwerkskonstruktionen beispielsweise duktile Elemente eingebaut hätten, die sich bei der Erschütterung durch Erdbeben verformen und so das Bauwerk vor dem Zusammenbrechen schützen. Japan habe zwar ab den fünfziger Jahren auf massive Bauweise gesetzt und in den darauffolgenden Jahrzehnten zunehmend mehr Beton und Armierung in das Tragwerk der Gebäude verarbeitet. Nach dem schweren Erdbeben von Kobe 1995 habe man aber festgestellt, dass dies aus mehreren Gründen auch kontraproduktiv sein könne. «Daraufhin hat Japan die neuseeländische Technologie übernommen, die sich in der Zwischenzeit weltweit verbreitet hat», sagt Bachmann.
Fortschrittlich in Tsunami- und Erdbebenforschung
Generell gilt Japan als sehr gut vorbereitet auf Erdbeben und Tsunamis. Auch das Frühwarnsystem hat am 11. März gut funktioniert. Acht Sekunden nachdem die seismischen Wellen die Küste erreicht hatten und 20 bis 60 Sekunden bevor die zerstörerischen Erdbebenwellen das Land erreichten, wurde die Bevölkerung gewarnt. Weite Küstenabschnitte sind durch Bauwerke gegen Tsunamis geschützt, doch für Sendai seien die Vorrichtungen zu niedrig ausgelegt gewesen, sagt Giardini. So konnte der mehr als zehn Meter hohe Tsunami nach heutigem Wissensstand Dieselgeneratoren überschwemmen, welche die Kernkraftwerke im Notfall kühlen sollten und Dieseltanks, die sich ausserhalb des gegen Tsunamis geschützten Reaktorbereichs befanden, weg spülen.
Hinweise bereits 2001
Hinweise darauf, dass sich in der Region alle 800 bis 1000 Jahre ungewöhnlich hohe Tsunamis – und damit vermutlich auch starke Erdbeben mit einer Magnitude grösser als 8.2 – ereignen können, hatte jedoch bereits eine Studie
eines japanischen Forscherteams im Jahr 2001 gegeben. Damals analysierten Wissenschaftler Tsunamiablagerungen aus dem Jahr 869 und modellierten den zugrundeliegenden Tsunami. Die Modelle liessen ein Erdbeben der Magnitude 8.3 vermuten, das einen Tsunami von maximal acht Metern Höhe generiert hat, der – wie beim jetzigen Erdbeben – dreissig Minuten später die Küste von Sendai erreicht haben dürfte.
Für Giardini ist einer der wichtigen Punkte für die Zukunft, dass mögliche Katastrophenszenarien noch umfassender analysiert werden. Denn auch bereits 2007 beim Niigata-Erdbeben, an der Westküste von Japan, welches Probleme im AKW-Komplex von Kashiwasaki-Kariwa brachte, seien die periphere Infrastruktur ausserhalb des Reaktors, wie etwa Wasser- und Stromleitungen sowie Zufahrtsstrassen und Dieseltanks durch das Erdbeben beschädigt worden. «Eine umfassende Risikoanalyse in Japan und weltweit ist erforderlich; so wie es die Schweizer Regierung nun beabsichtigt», sagt Giardini gegenüber ETH Life.
Japan verfügt über ein grosses Ingenieurwissen im Bereich erdbebensicheres Bauen und über den grössten Erdbebensimulator der Erde. In ihm können Bauelemente und bis zu sechs Stockwerke hohe Häuser wirklichkeitsnah getestet werden. Das Land verfügt zudem über eine gut Kenntnis seiner tektonischen Störungen und ist führend bei den Massnahmen zum Schutz vor Tsunamis. An der Ostküste von Japan kam es im vergangenen Jahrhundert zu 24 Erdbeben, die eine Magnitude grösser als 7 hatten. Ein solches Ereignis trifft dort im Durchschnitt alle vier Jahre ein und war auch der Katastrophe vom 11. März vorausgegangen. Deshalb gibt Giardini zu bedenken, ob bei Beben ab Magnitude 7 in Zukunft nicht immer mit noch stärkere Beben gerechnet werden müsste, und als Vorsichtsmassnahme kritische Infrastrukturbereiche wie etwa Kernkraftwerke, sowie Spitäler und Häfen, für eine Woche in erhöhter Alarmbereitschaft bleiben sollten.
Link: Ausbreitung des Tsunamis im Pazifik nach dem Tohoku-Erdbeben: