Die Ausstellung blickt 250 Jahre zurück und konfrontiert uns zeitwendend mit aktuellen Fragen. So viel als erster Hinweis auf "Mythos Galizien" im Wien Museum. Der zweite: Es gibt Ausstellungen, die fürs Lesen der Schrifttafeln ein geringeres Stehvermögen abverlangen. Dennoch und drittens: Der Besuch ist ein Gewinn.
Beispiellose Vielfalt
Jede Charakterisierung Galiziens ist insofern falsch, als auch das Gegenteil zutrifft. Das erklärt ein Stück weit die einzigartige und bis in unsere Tage anhaltende Faszination, die der Name auslöst. Am einfachsten ist die politisch-geografische Beschreibung:
1772 fiel aus der Zerreissung Polens ein Gebiet von der doppelten Fläche der Schweiz an Österreich-Ungarn, erhielt mit diplomatischer Fantasie den Namen Galizien, auch Königreich Galizien und Lodomerien, und lieferte der k. u. k. Monarchie billige Rohstoffe, Steuereinnahmen und Rekruten.
1918 ging Galizien, in dem polnisch, ukrainisch, jiddisch und deutsch gesprochen wurde, als Kronland mit seiner beispiellosen ethnoreligiösen Vielfalt unter. Die Hälfte der Bevölkerung kam gewaltsam um. Heute gehört das westliche Territorium mit dem Zentrum Krakau zu Polen, das östliche mit dem Zentrum Lemberg zur Ukraine.
"Ästhetik der Seltsamkeit"
Kaiser Joseph II. sprach von einem zu "zivilisierenden" Landstrich, der Volksmund vom "Königreich der Armut und des Hungers". Für die Schriftsteller Karl-Markus Gauß und Martin Pollack ist es "das reiche Land der armen Leute", für den Germanisten Stefan H. Kaszyński kommuniziert Galizien eine "Ästhetik der Seltsamkeit".
Davon schrieb der im galizischen Brody geborene Journalist und Romancier Joseph Roth bereits 1914 in seiner "Reise durch Galizien". Das Land "liegt in weltverlorener Einsamkeit und ist dennoch nicht isoliert; es ist verbannt, aber nicht abgeschnitten; es hat mehr Kultur als seine mangelhafte Kanalisation vermuten lässt: viel Unordnung und noch mehr Seltsamkeit." Er beförderte mit der Bezeichnung "verlorenes Paradies" die Mythenbildung.
Aus dem k. u. k. Galizien stammen, um sich die Bedeutung unter Persönlichkeitsaspekten zu vergegenwärtigen, u. a. Rose Ausländer, Helena Rubinstein, Josef Wittlin, Bruno Schulz, Manès Sperber, Billy Wilder sowie die Familien von Sigmund Freud und Karl Marx.
Kunststück der Nachvollziehbarkeit
Es grenzt ans Aussichtslose, die schicksalhafte Geschichte eines Landes, das eine politische, kulturelle, religiöse Komplexität sondergleichen aufwies, irgendwie eine Balance zwischen Koexistenz und Konflikt der Gegensätze fand und in kurzen Abständen Brüche zu ertragen hatte, in einer Ausstellung nachvollziehbar zu machen und nicht in der Detailfülle ertrinken zu lassen. Die Schwierigkeit der Visualisierung erhöhte sich, weil in Galizien zwar einige schöne Städte gebaut wurden, aber die Landschaft kaum je verzaubert.
Tatsächlich gelang dem Wien Museum in Kooperation mit dem International Cultural Centre in Krakau das Kunststück einer exzellent informativen und spannenden Ausstellung. Sie beginnt 1772 bei der ersten Teilung Polens, setzt sich mit den Gründungsmythen aus polnischer, ukrainischer, jüdischer und österreichischer Perspektive fort, zeigt die "Aneignung eines scheinbar leeren Raumes", fragt mit "Galicia felix?" nach der Entwicklung einer Autonomie, erhellt das apokalyptische Ende durch den Ersten Weltkrieg, vertieft die Schau um den Aspekt "Galizien in Wien" und wird in der Abteilung "Galizien nach Galizien" aktuell.
Anhaltendes Interesse
Mit umsichtigen Fleiss zusammengetragene und prägnant erklärte Landkarten, zeitgenössische Gemälde, literarische Texte, offizielle Urkunden und historische Fotografien bilden den so anstrengenden wie fesselnden Lehrpfad durch eine 146 Jahre dauernde Epoche am östlichen Rand Europas, deren geheimnisumwobene Ereignisdichte bis heute über die geographische Verortung hinaus starkes Interesse weckt.
Galizien-Kenner vergleichen die Region geistig-politisch mit dem Piemont des 19. Jahrhunderts und erwarten von ihr hinsichtlich der Bejahung der Moderne und Europas kräftige Impulse für die Entwicklung der Ukraine. Es wird abzuwarten sein, ob die Ausstellung in die Zukunft weist.
Wien Museum, Karlsplatz, bis 30. August 2015, www.wienmuseum.at
Höchst lesenswert ist der reich illustrierte und sorgfältig gestaltete Ausstellungskatalog, Metroverlag, Wien 2015, ISBN 978-3-99300-220-6, 384 Seiten, € 34.--