Das bisher für die palästinensischen Flüchtlingslager zuständige UN-Hilfswerk UNRWA ist in den Verdacht geraten, Pro-Hamas-Aktivitäten einiger seiner 13’000 Mitarbeiter gedeckt oder toleriert zu haben. Zwölf von ihnen sollen direkt am Massenterror vom 7. Oktober beteiligt gewesen sein. Mindestens einer der UNRWA-Mitarbeiter sei direkt in die Geiselnahme verwickelt gewesen.
Die Vorwürfe, die Israel der Uno übermittelt hatte, wurden an dem Tag bekannt, an dem der Internationale Gerichtshof seine Entscheidung über den Eilantrag Südafrikas verkündete. Prompt verlagerte sich die Debatte vom Inhalt der Entscheidung auf die Legitimität der UNRWA als UN-Hilfsorganisation.
In der Kritik
Doch damit nicht genug: Das Wall Street Journal berichtete unter Berufung auf israelische Geheimdienstinformationen, dass schätzungsweise 1’200 UNRWA-Mitarbeiter im Gazastreifen «Agenten» der Hamas oder des Islamischen Dschihad seien. Zudem habe die Hälfte der Mitarbeiter nahe Verwandte, die diesen Gruppen angehörten. Der Anteil der Hamas-Aktivisten unter den UNRWA-Mitarbeitern sei mit 23 Prozent sogar noch höher als im Durchschnitt der Bevölkerung in Gaza, der bei 15 Prozent liege.
Die Vorwürfe wiegen schwer und können nicht als Bagatellen oder Einzelfälle abgetan werden. Es drängt sich der Verdacht auf, dass die Hamas und der Islamische Dschihad die UNRWA seit bald zwanzig Jahren gezielt unterwandern, um sie zu einem Instrument ihrer nationalistischen Politik zu machen.
Jede grössere Organisation, die in Krisen- oder Kriegsgebieten mit «lokalen Agenten» arbeitet, ist der Gefahr der Unterwanderung ausgesetzt. Die UNRWA ist da keine Ausnahme. Ihr Mandat macht sie besonders verwundbar. In den letzten 25 Jahren kam es immer wieder zu Skandalen. So gilt die UNRWA als strukturkonservative Organisation, die sich neuen politischen Gegebenheiten nicht ausreichend anpassen kann. Durch ihr beharrliches Festhalten an den Zielen ihres 1948/9 formulierten Grundauftrags trage sie sogar zur Aufrechterhaltung des Konflikts bei: Sie perpetuiere die Illusion einer Rückkehr, da ihr strukturell die Aufgabe zugewiesen sei, für die Zeit bis zur Rückkehr gezielte Hilfsleistungen zu erbringen. Damit konserviert sie eine gesellschaftliche und politische Situation, in der der Konflikt mit Israel zur tragenden Säule des ideologischen Selbstverständnisses der Hamas werden konnte.
Ein interner Bericht bestätigte 2019 Machtmissbrauch, Vetternwirtschaft und Missmanagement. Die palästinensischen Behörden warfen der UNRWA vor, die ihr anvertraute Bevölkerung nicht schützen zu können oder zu wollen. Im Zusammenhang mit der zweiten Intifada traten bildungspolitische Aspekte in den Vordergrund. Eine ideologische Einseitigkeit wurde kritisiert. Allerdings aber hat sich die Bildungspolitik der UNRWA seit 1998 deutlich verändert. Wissenschaftliche Untersuchungen zu den von der UNRWA verwendeten Schulbüchern belegen zwar ein im Kern eher nationalistisch ausgerichtetes Weltbild, von antiisraelischen und antisemitischen Haltungen und Stereotypen wurde seitdem jedoch deutlich Abstand genommen. Im Wesentlichen stimmen israelische und palästinensische Schulbücher und Lehrpläne in ihrer gegenseitigen nationalistischen Feindbildkonstruktion überein. Dennoch blieb der Verdacht, die UNRWA agiere hier als dem Nationalismus verpflichtete palästinensische Schulbehörde.
Konkurrenten auf dem Platz
Die Hamas sah in der UNRWA lange Zeit einen lästigen, ja feindlichen Konkurrenten. Nachdem die Hamas, noch in der Tradition der Muslimbruderschaft, ihrerseits Solidaritätsnetzwerke in den Lagern und den angrenzenden urbanen Räumen aufgebaut hatte, nahm der Druck der Hamas auf die UNRWA zwischen 2009 und 2014 deutlich zu. Im August 2009 entzündete sich ein Streit um die Gestaltung von Lehrplänen, nachdem in Gaza bekannt geworden war, dass das Hilfswerk in den von ihm betriebenen Vorbereitungsschulen in der achten Klasse einen Menschenrechtskurs mit Bezug auf den Holocaust in den Lehrplan aufnehmen wollte. Die Hamas bezeichnete den Holocaust als «eine von den Zionisten erfundene Lüge» und forderte die Streichung des «beleidigenden Inhalts» aus dem Lehrplan. Die UNRWA-Verantwortlichen lenkten ein und bestritten, dass der Holocaust im Menschenrechtsunterricht behandelt werde. Drei Jahre später wiederholte sich der Konflikt. Als das Hamas-Regime 2013 die Geschlechtertrennung in Schulen anordnete, versuchte es diese auch in den UNRWA-Schulen durchzusetzen. Diesmal aber scheiterte die Hamas.
Der Grundauftrag
Die Besonderheit dieses Hilfswerks besteht darin, dass es den Flüchtlingsstatus bewahrt und gewissermassen vererbbar gemacht hat. Dies spiegelt noch den Grundauftrag dieser UN-Organisation wider, als sie am 8. Dezember 1949 durch die Resolution 302 der Generalversammlung zur Unterstützung der damals 500’000 arabischen Flüchtlinge gegründet wurde. Noch vor den Waffenstillstandsabkommen, die zwischen Februar und April 1949 den arabisch-israelischen Krieg beendeten, hatte die Resolution 194 der Generalversammlung (11. Dezember 1948) ein bedingtes Rückkehrrecht für die arabischen Flüchtlinge beschlossen. Für neun Monate sollten die Flüchtlinge durch internationale Hilfe unterstützt werden; zu diesem Zweck war durch die UN-Resolution 212 III vom 19. November 1948 das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge mit einem Anfangsbudget von 30 Millionen US-Dollar eingerichtet worden. Als im Dezember 1949 die UNRWA gegründet wurde, zeichnete sich bereits ab, dass die Rückkehr der Flüchtlinge kaum zu bewerkstelligen sein würde. Deshalb wurde die Hilfe immer mehr verstetigt.
Einseitige Finanzierung
Nur 3% des UNRWA-Budgets sind fest im UN-Haushalt verankert, 97% sind Spenden. 47% kommen aus europäischen Staaten (Deutschland, Schweden, UK und Schweiz), 10% aus der EU, 30% aus den USA. Nur 3,7 % der Spenden kommen aus arabischen Staaten, vor allem aus Katar und Kuwait. Die Brics-Staaten sind mit 0,8 % an der Finanzierung beteiligt. Die Schweiz beteiligt sich mit gut 31 Mio. US-Dollar und unterstützt vor allem permanente Programme und Nothilfe.
Die UNRWA ist damit eine vor allem von den USA und den Europäern finanzierte Hilfsorganisation. Inzwischen ist das Budget auf 1,1 Milliarden US-Dollar angewachsen, wovon knapp 60 Prozent in feste Programme fliessen, der Rest verteilt sich auf zusätzliche Aufgaben wie die Nothilfe.
Strukturen
In Gaza leben 24% der von UNRWA registrierten Menschen, verteilt auf acht Flüchtlingslager. Für die knapp 1,5 Millionen in Gaza registrierten Personen unterhielt die UNRWA bisher 267 Schulen, zwei Zentren für berufliche und technische Ausbildung, 22 Einrichtungen der medizinischen Grundversorgung, sieben Zentren für Frauenprogramme und sieben kommunale Rehabilitationszentren.
Es überrascht nicht, dass die UNRWA und ihre kurzlebige Vorgängerorganisation in den vergangenen 75 Jahren zu einem integralen Bestandteil der palästinensischen Gesellschaft geworden sind. Vor allem im Dienstleistungssektor, und hier insbesondere im Gesundheits- und Bildungsbereich, ist die UNRWA zu einem Faktor im palästinensischen Gesellschaftsbildungsprozess geworden. Transnationale Aspekte spielen dabei kaum eine Rolle. Die UNRWA-Hilfen für die palästinensische Diaspora in Jordanien, Libanon, Syrien, der Westbank und Gaza haben nicht zur Herausbildung einer transnationalen Gesellschaftsstruktur geführt, sondern zu einer Segmentierung in den Aufnahmeländern, die das Palästinensische als eigene Ordnung definiert. Der tragende Rahmen eines länderübergreifenden palästinensischen Nationalismus ist eher schwach ausgeprägt. Er ist letztlich nur in Gaza und der Westbank wirksam.
Ein neues Mandat?
Problematisch also ist, dass seit einigen Jahren Mitglieder der Hamas versuchen, in den Institutionen der UNRWA Fuss zu fassen, weil sie die Hilfsorganisation als integralen Bestandteil ihres Solidaritätsnetzwerks auffassen. Das fiel ihr umso leichter, als sowohl die israelische wie auch die UN-Seite die Hamas damals noch als Teil einer Solidaritätsgemeinschaft mit Gaza betrachteten und daher versuchten, die Strukturen des Solidaritätsnetzwerks, das die Hamas in Gaza aufgebaut hatte, für die eigenen Hilfsleistungen zu nutzen. Ein gezieltes personalpolitisches Monitoring war nach aussen hin nicht erkennbar. Erst ab 2015/7, als sich eine politische Umorientierung der Hamas abzeichnete, die mit einer programmatischen Neuausrichtung einherging, wurden die Interventionen der Hamas als problematisch erkannt und genauer beobachtet.
Nachdem Israel 2017 ein Ende der internationalen Hilfe für die UNRWA gefordert hatte und im Jahr darauf US-Präsident Trump die US-Hilfe für die UNRWA einstellte und auch andere Geldgeber einen Teil ihrer Hilfe einstellten, haben verschiedene Forschungsinstitute in Europa die Folgen eines politischen Zusammenbruchs von Hamas und der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) für die Arbeit der UNRWA bzw. eines Zusammenbruchs der UNRWA für die palästinensische Gesellschaft untersucht und prognostiziert. Dabei zeigte sich, dass die UNRWA in wesentlichen Bereichen für die soziale, medizinische und kulturelle Versorgung unverzichtbar geworden ist. Dies betrifft insbesondere die Situation in den besetzten Gebieten und im Libanon. Für den Fall des Zusammenbruchs der bestehenden quasistaatlichen Verwaltungen durch die PA bzw. die Hamas wurde sogar ein Zusammenbruch der palästinensischen Gesellschaft prognostiziert. Die Studien bestätigen, dass die 75 Jahre alte Organisation vor allem in Palästina und im Libanon zu einem integralen und strukturbestimmenden Bestandteil des Dienstleistungssektors geworden ist; Schulen, medizinische Einrichtungen, Sozial- und Nothilfe sind in weiten Teilen der Gesellschaft ohne sie nicht funktionsfähig.
Geburtshelfer
Doch der Krieg in Gaza hat die Rahmenbedingungen für UNRWA radikal verändert. Nun, da eine politische Neuordnung der palästinensischen Gebiete diskutiert wird, muss auch das Mandat der UNRWA neu überdacht werden. Das ursprüngliche Mandat sollte für eine Übergangszeit neu definiert und den politischen Veränderungen angepasst werden. Dies setzt auch eine tiefgreifende Reform des UNRWA-Apparates voraus. Im Einklang mit der allgemeinen politischen Zielsetzung, die auf die Errichtung eines palästinensischen Staates ausgerichtet sein wird, muss die UNRWA zumindest in Palästina zum Geburtshelfer eines funktionierenden öffentlichen Sektors der neuen palästinensischen Gesellschaft werden. Da sich damit auch die politischen Rahmenbedingungen in Libanon, in Syrien und in Jordanien grundlegend ändern werden, wird die UNRWA mittelfristig auch dort institutionell neu aufgestellt werden müssen. Die UNRWA steht damit im Zentrum eines weitreichenden Transformationsprozesses, an dessen Ende sie überflüssig sein wird. Soll diese Transformation gelingen, ist eine internationale Weiterfinanzierung ihrer Tätigkeit unter neu gestalteten organisatorischen Rahmenbedingungen, insbesondere der Aufsicht, unabdingbar. Um dem zu entsprechen und um das Vertrauen der Weltöffentlichkeit wiederzugewinnen, müssen die Verantwortlichen aber prioritär Massnahmen ergreifen, die die Glaubwürdigkeit der Organisation wieder zum Kern ihrer Legitimität machen.