Das weltberühmte Basler Architekturbüro setzte 2015 auf den Chäserrugg im Obertoggenburg gleichsam als Krone eine neue, ganz in Holz konstruierte Bergstation für die seit 1972 bestehende Seilbahn. Zur gleichen Zeit plante es die zur Entlastung gedachte Gondelbahn vom Espel aus, für die eine Tal-, eine Mittel- und eine Bergstation gebaut werden mussten.
Während die Bergstation auf dem Chäserrugg explizit eine architektonisch anspruchsvolle Handschrift erkennen lässt, sind die drei Gebäude der Gondelbahn auffällig nüchtern und von anderen anonymen Bergbahnbauten kaum zu unterscheiden. 2017 schliesslich entstand in unmittelbarer Nähe der Talstation Espel ein Holzpavillon mit Terrasse. Im Grunde muss er als eigenständiges Werk gelten, doch Herzog & de Meuron fügten es – versehen mit der Nummer 374.3 – als Teil des Ensembles mit Gondelbahn, Nummer 374.2, und Bergstation Chäserrugg, Nummer 374, in ihr Gesamtwerk ein.
Gelenkte Wahrnehmung
Wüsste man nichts über die Urheber des Pavillons, man würde es nicht als architektonisches Kunstwerk wahrnehmen, sondern als bedeutungslosen Zweckbau. Das provoziert Fragen im Zusammenhang mit der Beurteilung und vor allem Wertung von architektonischen Artefakten. Es ist offensichtlich, dass schon alleine die Etikette „Herzog & de Meuron“ meine Analyse des Pavillons beeinflusst, ja, dass erst dieses Wissen meine Aufmerksamkeit auf diesen Bau gelenkt hat.
Ich bin mir bewusst, dass mein Urteil über ein bestimmtes Kunstobjekt nur zu einem bescheidenen Teil autonom zustande kommt. Eine Vorselektion für den Auftritt auf dem Laufsteg findet ohne mein Zutun statt. Diese erste Hürde ist abhängig von Seilschaften, die zwischen ambitionierten Baukünstlern, Dozenten an wichtigen Schaltstellen und renommierten Journalistinnen geknüpft werden, wobei die Kriterien für den Entscheid, bestimmte Persönlichkeiten zu fördern und andere zu übergehen, vage bleiben. Macht ist sicher ein Aspekt, aber auch so etwas wie Zeitgeist, persönliche Vorlieben und vermutlich auch Zufall. Wer einmal in den massgebenden Medien präsent ist, wird vor kritischen Fragen abgeschirmt. Solche können nur noch von Banausen kommen, und antworten werden dann Experten in einer Sprache, die niemand mehr versteht – die Eingeweihten ausgenommen.
Jacques Herzog und Pierre de Meuron, zweifelsohne begnadete Entwerfer, gelang der Zugang zur Avantgarde schon früh und sie verstanden es auch, Redaktionen, Verlage und Kuratoren mit Delikatessen zu füttern. In Sachen Marketing waren sie den Konkurrenten um Längen voraus. 1991 richteten sie für die Architekturbiennale Venedig im Schweizer Pavillon eine bemerkenswerte Ausstellung ihrer bis anhin wenigen Realisationen ein; die Art, wie sie dies taten, hob die vom Mainstream ab: Sie engagierten bekannte Fotografen, ihre Bauten festzuhalten.
So war die Schau auch eine Auseinandersetzung mit dem Thema Architekturfotografie. Bis zu diesem Zeitpunkt spielten noch andere Deutschschweizer Architekten in derselben Liga, etwa Diener & Diener, Marianne Burkhalter und Christian Sumi, Peter Maerkli, Michael Alder, Meinrad Morger und Heinrich Degelo, Annette Gigon und Mike Guyer. Mit der Etikette «Neue Einfachheit» wurden sie auch international zur Kenntnis genommen.
Aus dem Rahmen gefallen
Spätestens nach der Jahrtausdendwende befreiten sich die Basler von den nationalen Fesseln; sie agierten nun weltweit mit Grossprojekten, die nicht nur aufgrund der Dimensionen aus dem Rahmen fielen, sondern auch formal Aufsehen erregten, man denke an die Tate Modern in London, das De Young Museum in San Franzisco, das Forum 2004 in Barcelona, die Allianz Arena in München, das Olympiastadium in Peking, die Elbphilharmonie in Hamburg, an den neuen Wolkenkratzer 56 Leonard Street in Manhattan.
Und plötzlich gelang es ihnen in Basel, bisherige helvetische Grenzen zu sprengen, wovon das Fussballstadium St. Jakob, die Messe Basel, der Roche-Turm 1 oder der Meret-Oppenheim-Turm zeugen.
Inmitten dieser Ehrfurcht gebietenden Megabauten versteckt sich der Espelpavillon, der aus dem Rahmen fällt. Man kann nun auf Rem Koolhaas verweisen, der in seinem epochalen Werkkatalog „S,M,X,XL“ Kleinstprojekte gleichwertig neben den Monumenten in Übergrösse präsentierte. Den Espelpavillon würde man somit in die Kategorie „S“ einteilen. Erstaunlich gerade bei Herzog & de Meuron ist jedoch hier das Fehlen einer innovativen Idee, ausser man würde die Tatsache, dass gerade das Gewöhnliche gebaut wurde, als das überraschend Unerwartete betonen.
Im Kommentar zum Pavillon schreiben die Architekten: „Der rechteckige Holzbau mit kurzem First orientiert sich in Materialisierung und Gestalt an den benachbarten Scheunen und Ställen. (...) Dadurch ist der Eingriff in die Landschaft zurückhaltend – im Sommer scheint es einfach ein weiterer Stall zu sein.“
Gefahr des Beliebigen
Ich könnte einen solchen Kommentar bei Gion A. Caminada nachvollziehen, der, inspiriert von den Holzbauten in Vrin, konsequent in den eigenen Werken den Dialog von Alt und Neu wagt. Auch bei Peter Zumthor sind die Verweise auf die lokale Bauweise grundlegend für das Verstehen seines Schaffens. Bei Herzog & de Meuron fiel in den vergangenen zwei Jahrzehnten diese mit dem Espelpavillon zelebrierte Hommage an die vernakuläre Architektur (um einen Ausdruck aus dem Vokabular der Architekturkritiker zu verwenden) nicht auf. Im Gegenteil: Anders zu sein, scheint eine wesentliche Komponente der Entwurfsstrategie zu sein. Doch gerade dieses virtuose Spiel mit Ideen birgt die Gefahr des Beliebigen in sich.
Ist der Pavillon nun ein gutes architektonisches Werk? Vielleicht müsste ich fragen, was die Alternative gewesen wäre, zum Beispiel eine schrille Stahl-Glaskonstruktion mit greller Neonbeleuchtung und viel Wellnessdesign. So betrachtet kann man dankbar sein, dass stattdessen ein einfacher Stall errichtet wurde. Reicht dies, um das Werk mit einem Gütesiegel zu versehen? Ich weiss es nicht, denn – ich wiederhole mich – ohne die Aura der Entwerfer wäre der Pavillon höchstens eine Fussnote wert. Stattdessen investierte ich über 6000 Zeichen!