Diese gewundene Erklärung, die Obama von seinem stellvertretenden Sicherheitsberater Ben Rhodes verlesen liess, überzeugt nicht restlos. Sie gleicht eher einem Selbstverteidigungsschlag des Präsidenten, der von mehreren Seiten in die Zange genommen wird, in Syrien etwas zu tun. Sein republikanischer Gegner John McCain drängt unermüdlich auf eine Militärintervention. Frankreich und Grossbritannien haben in der EU die Aufhebung des für alle syrischen Konfliktparteien geltenden Waffenembargos durchgesetzt. Sie wollen jetzt die Rebellen aufrüsten. Die USA müssen befürchten, von den ehemaligen Kolonialmächten, die sich nach dem Ersten Weltkrieg den Nahen Osten aufteilten, beim Wettlauf um die besseren Positionen in der Post-Assad-Ära überholt zu werden.
In der selbst gestellten Falle
Obama ist in eine Falle getappt, die er sich mit der Ziehung einer «roten Linie» im syrischen Bürgerkrieg selbst gestellt hat. Im August 2012 war der Präsident auf einer Pressekonferenz im Weissen Haus gefragt worden: «Mr. President, können Sie sich vorstellen, das US-Militär einzusetzen, um die chemischen Waffen der Syrer zu sichern?»
Obama antwortete: «Ich habe bis jetzt kein militärisches Eingreifen angeordnet. Aber für uns ist eine rote Linie überschritten, wenn eine ganze Menge chemischer Waffen bewegt oder eingesetzt wird. Das würde meine Kalkulation ändern.»
Es brauchte folglich nur jemand einen Angriff der Regierungstruppen mit C-Waffen zu fingieren oder inszenieren, um Washington entweder in den Bürgerkrieg hineinzuziehen oder Obama als unglaubwürdig zu entlarven. Die Opposition im US-Kongress fasste die geschenkte Gelegenheit beim Schopf, um Obama als schwankende Gestalt darzustellen. Die Oppositionsgruppen in Syrien sind sich nur in einem Punkt einig: Der Westen muss ihnen zu Hilfe eilen – mit Waffenlieferungen sowieso und möglichst auch mit militärischen Aktionen wie einem überwachten Flugverbot für die syrische Luftwaffe.
Die jüngsten Erfolge der syrischen Regierungstruppen lassen Entscheidungen dringlicher erscheinen. Ein militärisches Eingreifen wird damit gerechtfertigt, dass mit dem wirksamen Einsatz der libanesischen Hisbollah und iranischer Pasdaran auf Assads Seite bereits eine ausländische Militärintervention stattgefunden hat. Dieses Argument lässt ausser Acht, dass auch zur Unterstützung der Aufständischen gut bewaffnete Kämpfer aus aller Welt nach Syrien strömen. Ohnehin ist der Syrienkonflikt längst zu einem Stellvertreterkrieg geworden, in dem sowohl Welt- wie auch regionale Mächte ihre Puppen tanzen lassen.
Keine Klarheit über Giftgaseinsatz
Bei der Suche nach der Wahrheit über den Einsatz von Giftgas in Syrien haben zuletzt zwei Journalisten der französischen Tageszeitung «Le Monde» Zeugenaussagen und angeblich mit Sarin durchsetzte Bodenproben aus Kampfzonen mitgebracht. Die Proben wurden in Paris analysiert und nach London und Washington weitergereicht. Auf sie stützen sich die «überzeugenden Beweise», wonach die Regierungstruppen in umkämpften Wohngegenden unter anderem Sarin versprüht haben.
Auch eine Untersuchungskommission des UNO-Menschenrechtsrats unter Leitung des Brasilianers Paulo Pinheiro gelangte in ihrem jüngsten Bericht am 4. Juni zu dem Schluss, es gebe «vernünftige Gründe», anzunehmen, dass an vier Orten «begrenzte Mengen giftiger Chemikalien eingesetzt wurden». Wer die Urheber waren, konnten die Ermittler nicht herausfinden. Die syrische Regierung verweigert ihnen die Einreise.
Ebenfalls nicht nach Syrien reisen darf ein Untersuchungsteam der UNO, das die syrische Regierung selbst angefordert hatte. Das Regime behauptete, Rebellen hätten Armeeangehörige mit Giftgas angegriffen. Als die UNO aber beschloss, die Untersuchung auf alle gemeldeten Fälle auszudehnen, widerrief Damaskus die Einladung.
Syrien an C-Waffen-Abrüstung nicht beteiligt
Syrien ist neben Nordkorea, Ägypten und Israel eines der wenigen Länder, die der Konvention von 1993 über das Verbot der chemischen Waffen und ihre Zerstörung nicht beigetreten sind. Die Anwendung von C-Waffen ist seit 1925 durch das Genfer Giftgasprotokoll verboten. Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der C-Waffen-Konvention 1997 besassen alle Mitgliedstaaten zusammen laut ihren eigenen Angaben 71’315 Tonnen chemischer Kampfstoffe in flüssiger oder Pulverform, abgefüllt in 8,7 Millionen Stück Munition. Seither sind rund 70 Prozent dieser Stoffe in komplizierten Verfahren unschädlich gemacht worden.
Nach den in der Nacht zum Freitag veröffentlichen Erkenntnissen der US-Geheimdienste hat der Einsatz chemischer Kampfstoffe in Syrien zwischen 100 und 150 Todesopfer gefordert. Das ist wenig im Vergleich zu den 93’000 Menschen, die bisher im Krieg das Leben verloren, wie das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte am Donnerstag bekanntgab.
Bekanntlich ist die Wahrheit das erste Opfer jedes Krieges. Wenn man aber hinsichtlich des Einsatzes von C-Waffen in Syrien die klassische Frage «Cui bono?» stellt, dann kann die Antwort eigentlich nur lauten: Nicht dem Regime! Kann es sein, dass in den Augen Assads ein so geringer militärischer Nutzen die zu erwartenden katastrophalen Folgen aufwiegt? Kann der bedrängte Machthaber so verrückt sein, ohne ersichtlichen Vorteil die Schande eines schweren Bruchs des humanitären Völkerrechts auf sich zu nehmen und gleichzeitig die USA zu einer Militärintervention einzuladen?
Unklare Abgrenzung der C-Waffen
Sarin wurde 1939 in den Labors von IG Farben in Wuppertal entwickelt. Der Name setzt sich aus den Anfangsbuchstaben seiner Erfinder zusammen. Ursprünglich war das Nervengift als Insektizid vorgesehen. Seine hochtoxischen Eigenschaften machten es rasch zu einer Massenvernichtungswaffe, vor deren Einsatz im Zweiten Weltkrieg sowohl Hitler-Deutschland wie seine Gegner zurückschreckten. 1950 nahm die Nato Sarin in ihre Standardausrüstung auf. Auch in der Sowjetunion wurde der Stoff in grossen Mengen produziert. Später wurde Sarin durch das in England entwickelte Nervengift VX ersetzt, das zehnmal so tödlich wirkt.
Ob eine Substanz ein Pflanzenschutzmittel oder eine chemische Waffe ist, hängt von ihrer Konzentration ab. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass in Syrien verdünntes Sarin zur Anwendung gelangte. Auch gewisse «Riot Control Agents», die von der Polizei bei Aufruhr eingesetzt werden, kommen in ihrer Wirkung C-Waffen recht nahe. In Deutschland gab es vor Jahrzehnten heftige Proteste, als sich die Polizei mit dem berüchtigten CS-Gas ausrüstete. Diese Stoffe, deren lähmende Wirkung im Prinzip nur vorübergehend sein darf, fallen ausdrücklich nicht unter das C-Waffen-Verbot.
Die meisten C-Waffen sind flüssig. Sie werden in Kanistern von Flugzeugen abgeworfen oder als Granaten verschossen. Diese Munition ist mit einem Mechanismus versehen, die die Flüssigkeit in kleinen Tröpfchen über eine gewisse Fläche zerstäubt. Hier liegt eines der Rätsel aller Berichte über den angeblichen Einsatz von C-Waffen in Syrien: Zwar gibt es zahlreiche Aussagen von Opfern und von Ärzten, zuletzt auch Bodenproben, aber noch immer keine Funde oder Fotos von Munition, mit der die Kampfstoffe ins Ziel gebracht wurden. Damit fehlt ein untrüglicher Beweis.