Die Vorverlegung der türkischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen um 16 Monate – vom 3.November 2019 auf den 24. Juni 2018 – veranlasst die türkische Opposition zu raschen und effizienten Vorbereitungen.
In den Startlöchern
Soeben hat die Hauptoppositionspartei, die Republikanische Volkspartei (CHP), einen gewagten Schachzug unternommen, der gewiss Einfluss – möglicherweise sogar entscheidenden Einfluss – auf das Wahlresultat haben wird. Die überraschende Massnahme spiegelt die ausserordentliche Bedeutung der bevorstehenden Wahlen wider, bei der es um nichts weniger geht als um die Zukunft der türkischen Demokratie.
Die AKP, die Partei Erdogans, zieht mit einem Verbündeten in die Wahlen, der ultra-nationalistische MHP (Nationale Bewegungspartei). Erdogan hatte sich für dieses Bündnis entschieden, nachdem seine Partei in den Wahlen vom Juni 2015 zum ersten Mal in ihrer damals 14-jährigen Geschichte nicht die absolute, sondern bloss eine relative Mehrheit erlangt hatte.
Absolute Mehrheit?
Um seine Pläne einer „exekutiven Präsidentschaft“ durchzusetzen, braucht Erdogan eine absolute Mehrheit. Er entschied sich daher für das Bündnis mit der MHP. Um dieses zu realisieren, musste er eine scharfe Antikurdenpolitik betreiben, denn die Ultra-Nationalisten der MHP sind erbitterte Feinde der kurdischen „Separatisten“. Dies geschah.
Heute sitzt der charismatische Führer der demokratisch ausgerichteten pro-kurdischen DHP (Demokratische Partei der Völker), Salahettin Demirtas, mit zehn anderen Abgeordneten seiner Partei und seiner Kopräsidentin, Figen Yüksekdag, im Gefängnis. Demirtas wurde am 3. November 2016 verhaftet. Mehr als ein Jahr später, im Dezember 2017, wurde der Prozess gegen ihn eröffnet. Die Staatsanwaltschaft fordert 142 Jahre Gefängnis für ihn. Die türkische Armee kämpft gegen die Kurden nicht nur in der Osttürkei und in den angrenzenden irakischen Bergen, sondern auch in Nordsyrien, wo sie ihren „Sieg“ über Afrin gefeiert hat.
Spaltung der ultra-nationalistischen MHP
Die Rechnung ging auf. Erdogan sorgte dafür, dass am 3. November 2015 noch einmal gewählt werden musste, und diesmal erhielt seine Partei wieder eine absolute Mehrheit.
Doch in der MHP kam es über der Frage der Allianz zu einer Spaltung. Die Politikerin von Gewicht, Meral Aksener, forderte den Parteichef, Devlet Bahceli, zu dieser Frage heraus, stritt mit ihm und gründete schliesslich ihre eigene Partei, die sie die „Iyi“ Partei nannte, Partei des Guten. Fünf der 40 Abgeordneten der MHP gingen zu „Iyi“ über. Wie viele der Wähler der MHP dies auch tun werden, weiss man natürlich nicht, doch es könnte bei den knappen Mehrheitsverhältnissen entscheidend werden. „Iyi“ stellt sich gegen die Pläne Erdogans, und Frau Aksener will als Gegenkandidatin gegen ihn auftreten. – Soweit die zum Verständnis nötige Vorgeschichte.
Kann „Iyi“ an den Wahlen teilnehmen?
Nun gab es eine Unklarheit. Die Neugründung von „Iyi“ war so kurz vor dem neu festgesetzten Wahltermin erfolgt, dass man behaupten konnte, die neue Partei habe nicht alle legalen Voraussetzungen erfüllt, die notwendig seien, um als Partei in die Wahlen ziehen zu können. Insbesondere gibt es eine Vorschrift, die fordert, neue Parteien müssten sechs Monate vor den Wahlen einen Parteikongress abhalten, der über die Parteiführung abstimmt, damit das Resultat dieser Abstimmung veröffentlicht werden kann. Ob „Iyi“ als Partei in die Wahlen ziehen könne, war daher fraglich.
Es gibt aber eine andere Vorschrift, die besagt, wenn eine parlamentarische Gruppe sich im Parlament zusammenfindet und aus mindestens 20 Mitgliedern besteht, kann die Partei dieser Gruppierung an den Wahlen teilnehmen. 15 der 134 Abgeordneten der CHP, der weitaus grössten Oppositionspartei, entschlossen sich daher, zu den 5 Parlamentariern von „Iyi“ zu stossen und mit ihnen eine parlamentarische Gruppe zu bilden.
Zu diesem Zweck mussten sie aus ihrer eigenen Partei austreten und Mitglieder von „Iyi“ werden. Sie taten dies, obwohl die CHP eigentlich links der Mitte stehen will, während Aksener und die Ihren durchaus zur Rechten zu rechnen sind. Dem Vernehmen nach regte Parteichef Kemal Kiliçdaroglu die 15 zu diesem ungewöhnlichen Schritt an. Die „Überläufer“ erklärten, es gehe um wichtigere Belange als die Zugehörigkeit zu rechts oder links, nämlich um die Rettung der Demokratie an sich. In der Tat bestätigte die „Souveräne Wahlkommission“ der Türkei kurz nach der Bildung der parlamentarischen Gruppe, dass „Iyi“ als Partei bei den Wahlen mitwirken darf.
Erdogan zeigt sich erzürnt
Dass dieser Schachzug von Bedeutung ist und offenbar die fein gesponnen Pläne der AKP und Erdogans durchkreuzt, zeigte die Reaktion des Präsidenten. Er rief eine Sondersitzung des Parlamentes ein, um sich über die Vorgänge zu beklagen. Er wird mit der Aussage zitiert, es sei eine „Katastrophe, dass das Parlament so tief heruntergekommen“ sei. In der Sitzung kam es zu einem Tumult, als Kiliçdaroglu, der Chef der CHP, sagte, der 20. Juli 2016 sei „der Tag eines Staatsstreichs der AKP“ gewesen. Das Datum ist jenes der ersten Einführung des Ausnahmezustandes unmittelbar nach dem fehlgeschlagenen Putschversuch der vorausgegangenen Tage. Der Ausnahmezustand besteht noch heute und wird auch an dem neu angesetzten Wahltermin weiter bestehen, eine Lage, die nicht ohne Einfluss auf die Wahlen bleiben wird und gegen welche die CHP scharf protestiert.