Manche Bücher sind unerschöpflich. Sie begleiten einen ein Leben lang, man liest wieder und wieder darin, sie inspirieren stets aufs Neue, man macht Entdeckungen, wird auf Zusammenhänge, auf Botschaften aufmerksam, die man früher nicht beachtet hat. James Joyces «Ulysses» ist so ein Buch, an dem man sich nie satt liest. Zur Zeit wird es im Zürcher Strauhof geöffnet und belebt.
Vor hundert Jahren, am 2. Februar 1922, übergab die Amerikanerin Silvia Beach, die in Paris die Buchhandlung Shakespeare & Co. führte und eine der wichtigsten Förderinnen des Autors war, Joyce das erste Exemplar des «Ulysses». Joyce lebte damals in Paris, hatte in Paris, Triest und Zürich sieben Jahre lang an seinem Roman geschrieben, war vierzig Jahre alt und hielt nun, nach langer und mühsamer Verlagssuche, das gedruckte Werk in seinen Händen.
Von hundert Seiten
«Ulysses von hundert Seiten» nennen die Kuratorinnen Ruth Frehner und Ursula Zeller ihre Ausstellung. Die beiden arbeiten in der James Joyce Stiftung, die ebenfalls im Strauhof untergebracht ist. Man sollte sich viel Zeit nehmen für den Besuch der Ausstellung. Es lohnt sich. Ausgehend vom Buch (der Erstausgabe), das man in der Eingangszone ins Auge fasst, führt einen der Weg an hundert Schauplätzen vorbei, an denen es viel zu sehen, zu lesen und einiges zu hören gibt. Die ersten sechzig Stationen sind den einzelnen Episoden des Romans gewidmet. Man nimmt Anfangssätze zur Kenntnis, taucht in die Dubliner Welt ein, wird auf Leitmotive hingewiesen, bekommt zu lesen, wie sich Wörter, Sätze, Bilder zu einem Sprachstrom entwickeln, zu einer gigantischen, aber auch nuancierten Komposition, in der alles mit allem zusammenhängt. Kleine Requisiten, zum Roman passende kuriose Gegenstände – eine Teetasse zum Beispiel, mit Parkvorrichtung für den Schnurrbart – werden präsentiert, Fotodokumente verbildlichen und lokalisieren einzelne Motive.
An den Stationen sechzig bis hundert geht es dann um die Entstehungsgeschichte, um Publikation und Rezeption, allgemein um die Wirkung, die der Roman bis heute ausübt. Man kann wilde Manuskriptseiten bewundern, wird mit der hindernisreichen Publikationsgeschichte konfrontiert, lernt Freunde und Mäzenatinnen kennen, erlebt die Faszination, die der Roman bis heute auch auf junge Generationen auszuüben vermag. Vertiefte Einblicke in Joyces Werk werden einem via Video-Statements zuteil: Da kann, wer will, Meinungen, Interpretationen von Literatur-Fachleuten abrufen.
Ein Schlüsselwerk
Joyce beschreibt im «Ulysses» einen Tag und eine Nacht, den 16. Juni 1904. Seine Hauptfigur, der Anzeigenakquisiteur Leopold Bloom, durchstreift in diesem Zeitraum Dublin. Als «Bloomsday» ist der 16. Juni zum Gedenktag an den Roman geworden – Joyce-Fans begehen ihn jedes Jahr.
«Ulysses» gilt als Schlüsselwerk der modernen Literatur. Tatsächlich hat Joyce im Roman Sprache in einer Art genutzt und bearbeitet wie niemand vor ihm (und wenige nach ihm). Sie ist ihm Universum, in dem alles möglich, alles erlaubt ist. Jargon, derbe Umgangssprache werden so gut eingesetzt wie kunstvolle Lautmalerei, Dialog; epische Ausführlichkeit kontrastiert mit lakonischer Prägnanz. Komödie, Satire spielen eine wichtige Rolle. Die Komposition einzelner Episoden kann musikalischen Kategorien gehorchen, mehr sinnlich oder mehr abstrakt, denkerisch wirken. Homers Odyssee bleibt als Referenz, als weit entfernter Horizont oder als symbolträchtiger Überbau beim Lesen gegenwärtig. Der Roman schliesst mit einem hochgereizten, berühmt gewordenen Stück Prosa: Molly Bloom, die Frau Leopolds, liegt im Bett und erzählt ohne Punkt und Komma auf über fünfzig Seiten in einem inneren Monolog aus ihrem Leben.
Die Ausstellung im Strauhof schafft mit ihren Zitaten, Dokumenten und Erläuterungen Leseanreize, denen man unbedingt nachgeben sollte. Zum Glück gibt es eine hervorragende deutsche Übersetzung des Romans. Sie stammt von Hans Wollschläger und vermittelt uns Lesenden auch jenseits des irischen Originals ein starkes, ein authentisches Erlebnis.
Strauhof, Zürich, bis 1. Mai 2022