Es ist dies eine der schwierigsten und gleichzeitig eine der vielleicht wichtigsten Anlagefragen, die es im Leben zu beantworten gilt. Fakt ist, dass es für den Entscheid darüber, wie man sein Alterskapital beziehen soll – wenn man denn überhaupt eine Wahl hat – , kein richtig oder falsch gibt. Und da können wir noch so viel Robotisches oder noch soviel Digitales herankarren, der Entscheid ist ausgesprochen individuell und hat neben der familiären finanziellen Situation und den rationalen Elementen insbesondere eine emotionale Seite, die am Ende des Tages das Zünglein an der Waage sein dürfte (und wohl auch sein sollte). Mit anderen Worten, wir sollten nicht zuletzt auch die emotionalen und mentalen Herausforderung durchleuchten, welche die Fragestellung charakterisieren.
Die verhaltensorientierte Forschung im Finanzbereich hat uns in den letzten Jahren Einsichten geliefert, die auch hier eine wichtige Rolle spielen. So ist beispielsweise die Psychologie des Sparens in unserem Kulturkreis eine sehr spezielle. Das zeigt sich nicht zuletzt an der verbreiteten Attitüde, wenn immer möglich weniger auszugeben als einzunehmen. Das mag für unsere Ohren trivial tönen, ist aber keineswegs in allen Kulturkreisen der Standard. Bezüglich der Frage Rente versus Kapital ist interessant, dass diese Denkhaltung auch dann bestehen bleibt, wenn eine Rente bezogen wird. Und Verhaltensforscher stellen fest, dass die Regel sogar unabhängig vom Vermögen ist. Robert Leitner betont in einem kürzlichen Artikel (http://bit.ly/31NchMx ), dass das Ausgabe- und Sparverhalten auch in höherem Alter weniger vom Vermögensstand als vielmehr mehr vom Renteneinkommen abhängig ist. Das zeigt, dass das oft analysierte «Entsparen» von aufgebauten Vermögenswerten in unseren Breitengraden ein ziemlich schwieriges Unterfangen zu sein scheint. Das in der Behavioral Finance so stark betonte Prinzip des Mental Accounting lässt grüssen. (Renten-)Einkommen und (Alters-)Kapital befinden sich in völlig unterschiedlichen mentalen Konten. Und diese unterschiedlichen mentalen Konten werden durch unterschiedliche finanzielle Verhaltensweisen, Grundsätze und Anreize charakterisiert. Diese Elemente werden beim Entscheid Rente versus Kapital eine ebenso wichtige Rolle spielen, wie die bereits betonten rational-technischen Elemente. Deswegen ist ein Konsulent in diesem Bereich gut beraten, wenn er sich auch mit der psychologisch/emotionalen Ausstattung seiner Kundschaft auseinandersetzt (Risiken muss man eben nicht nur im Portemonnaie und im Kopf, sondern auch «im Bauch» aushalten können). Ein nicht ganz triviales Unterfangen. Nicht zuletzt auch deswegen, weil ja in vielen Fällen bei den Diskussionen zum Alterskapital zu Recht auch ein Partner, eine Partnerin, vielleicht eine ganze Familie involviert sind.
Natürlich hat die Bedeutung der psychologischen und emotionalen Elemente auch damit zu tun, dass inzwischen jedem bewusst ist, dass auch die rationalen Elemente der Fragestellung letztlich auf Erwartungen und Zukunftseinschätzung bezüglich an sich nicht voraussehbarer Ereignisse basieren (Lebenserwartung, Gesundheit, Finanzmarktrenditen, politische Entwicklungen, etc.). Mit anderen Worten, auch das vermeintlich Rationale ist oft nicht so eindeutig wie es ausschaut.
Wir wollen versuchen, dies an einem fiktiven Beispiel zu exemplifizieren, das an sich auf Iwan Brot zurückgeht (unter http://bit.ly/31OOAng findet sich ein kurzes Lehrvideo dazu): Ein Kapitalbezug von CHF 500’000 im Alter 65, gemäss Budgetschätzung notwendiges Einkommen aus dem Kapital: 30’000 p. a. Die untenstehende Grafik erläutert die (zugegebenermassen simple) Ausgangslage:
Das Kapital wird alternativ mit Renditen von 0% bis max. 5% p. a. investiert. Daraus ergeben sich die unterschiedlichen Entwicklungen des Kapitalstocks nach Bezahlung der Kapitalleistungssteuer sowie dem Bezug der jeweiligen CHF 30’000 zu Beginn der einzelnen Jahre. Auf der horizontalen Achse ist das Alter des Rentners/der Rentnerin abgetragen. Die einzelnen Linien zeigen, wie lange der Kapitalstock ausreicht, um die Budgetvorgaben (die ihrerseits auch auf Langfristeinschätzungen zu Lebensstandard, Gesundheit etc. basieren!) zu erfüllen. Die Männlein/Weiblein-Skizzen illustrieren die gegenwärtige Restlebenserwartung von Männern und Frauen im Alter 65. Der Vergleich mit den Renditelinien zeigt, welche Renditen mit dem Kapitalstock zu erwirtschaften sind, damit das Budget «bis zum durchschnittlichen Sterben» erfüllt werden kann. Oder eben: Damit der Kapitaltot nicht vor dem Lebensende kommt.
500’000 Franken sind ein grosser Betrag. Vielleicht der grösste Betrag, mit dem sich unser Rentner/in je beschäftigt hat. Und Renditezahlen von 3 bis 4% über einen so langen Zeitraum mögen dem einen oder anderen vielleicht auch heute noch trivial erscheinen. Wir wollen dazu aber kurz aufzeigen, was denn in den letzten 12 Jahren in der Schweiz an den Finanzmärkten so erwirtschaftet wurde. Wir nehmen dazu als Beispiel die durchschnittlichen Renditen der Pensionskassen, die jeweils in der Swisscanto PK-Studie mitmachen; die wohl umfangreichste PK-Studie in unserem Land. Die nachfolgende Abbildung enthält die Zahlen:
Die roten Balken zeigen die jährliche Performance der durchschnittlichen Pensionskasse – durchaus repräsentative Zahlen. Das arithmetische Mittel der Renditen liegt bei 3% p. a. Ein Vergleich mit der ersten Grafik zeigt, dass der für den Aufsatz gewählte Titel durchaus nicht nur der Phantasie des Autors entsprungen ist.
Nun mag unser Rentne der Meinung sein, er würde seine Anlagen besser verwalten als die durchschnittliche Pensionskasse und würde mit seinem ja immer noch relativ langen (von ihm erwarteten!) Anlagehorizont viel stärker in Aktien investieren können. Deswegen findet sich in der obigen Grafik auch noch die Performance des Schweizer Aktienmarktes über die gleiche Zeitperiode. Die Indexperformance können wir ihm allerdings nicht zugestehen. Wir haben Vermögensverwaltungskosten von einem Prozent p. a. verrechnet (eine wahrscheinlich eher konservative Rechnung). Das hätte ihm in den letzten 13 Jahren eine durchschnittliche jährliche Rendite von etwas über 4½% erbracht – und wenn wir das an sich richtige geometrische Mittel wählen, dann wäre er auch wiederum auf nicht viel mehr als 3% p. a. gekommen. Und wenn wir schon über Emotionen sprechen, wäre dann noch zu schauen, wenn nach Entscheid des Kapitalbezugs und aggressiver Investition in den Aktienmarkt so etwas wie 2008 passiert. Risikoneigungen sind eben auch flatterhaft.
Wir wollen dieses Beispiel, das natürlich noch viel tiefer in vielen weiteren Details analysiert werden könnte und an sich viel trivialer ist als das «wirkliche Leben», nicht noch weiter (über)beanspruchen. Eines wird aber bereits an diesem einfachen Denkmodell deutlich: Die Unwägbarkeiten, Unsicherheiten und damit die Risiken in solchen Analysen sind dergestalt, dass das mit Abstand wichtigste Element beim Entscheid Kapital versus Rente in der Beurteilung der verschiedensten Formen von Risikofähigkeit der involvierten Personen liegt. Und zwar nicht nur über eine Analyse der finanziellen Tragbarkeit der involvierten Risiken oder die vermutete Rest-Lebensdauer, sondern vor allem auch der mentalen und der emotionalen Fähigkeiten.
Kapital versus Rente ist eine komplexe Fragestellung. Gleichzeitig ist es für viele Leute die vielleicht wichtigste Anlageentscheidung des ganzen Lebens. Bei der Beurteilung gibt es viele rationale Elemente, die es zu berücksichtigen gilt. Daneben gibt es aber mentale und emotionale Elemente, die am Schluss ebenso wichtig sind. Wir sollten ihnen mehr Beachtung schenken.
[1] Der Autor ist Professor für Finanztheorie an der Universität Basel und Gründungspartner der Finanz-Ausbildungsplattform fintool.ch. Der vorliegende Aufsatz ist ursprünglich bei TheMarket erschienen.