Spätestens jetzt, nach dem Fall der Stadt Qusair, müssen sich die Amerikaner und Europäer fragen, wie sie sich gegenüber den syrischen Rebellen verhalten sollen. Ihre Strategie hat Konsequenzen nicht nur für Syrien, sondern für den gesamten Nahen Osten.
Doch es sieht gegenwärtig so aus, als ob weder die amerikanische Verwaltung noch die europäische Gemeinschaft in der Lage wären, klare Entscheide zu treffen. Sie tun ein bisschen dies und lassen ein wenig das. Sie reden sich und der Welt ein, ein Friedenskompromiss wäre noch immer möglich, wenn man ihn nur richtig einfädeln könnte.
Russland am längeren Hebel
Die russische Diplomatie hat ein Interesse daran, dass sich der Westen nicht bald entscheidet. Moskau fördert dieses westliche Nichts-Tun, indem es von einer möglichen internationalen Konferenz redet, an der Asad wahrscheinlich teilnehmen werde. Russland spricht auch davon, dass das syrische Regime ja bereit sei, Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten und sogar künftige "Wahlen" durchzuführen, in denen alle Syrer friedlich ihre Zukunft bestimmen könnten.
Doch die internationale Konferenz kann nichts bringen, solange sie die beiden Hauptparteien im Krieg nicht an den Verhandlungstisch bringt. Leider sind die westlichen Mächte nicht in der Lage, dies zu tun, weil die syrische Opposition, die sie theoretisch als die Vertretung von "Syrien" anerkennen, völlig uneinig ist. Sie konnte sich bisher trotz dringendem Zureden der "Freunde Syriens" nicht dazu durchringen, einen oder mehrere Unterhändler zu ernennen, die ermächtigt würden, für die gesamte syrische Opposition zu sprechen.
Über eine Woche der Tagungen und Diskussionen der oppositionellen syrischen "Nicht-Koalition" in Istanbul haben zu keinerlei Resultat geführt. Während diese Diskussionen der Exilgruppen stattfanden, gab der syrische Widerstand im Inneren des Landes bekannt, die Exilpolitiker im Ausland sprächen jedenfalls nicht in seinem Namen. Er betonte, er habe nichts mit ihnen zu tun.
Soll Asad gehen oder bleiben?
Selbst wenn sich die Exilgruppen und der Widerstand im Innern einigen könnten, stünde eine Syrien-Konferenz unter ungünstigen Vorzeichen. Es wäre noch die Frage der Vorbedingungen oder Rahmenbedingungen zu diskutieren, unter denen die Konferenz abzuwickeln wäre. Eine der wichtigsten Fragen wäre: Soll die Konferenz zu einer Bestätigung des Asad-Regimes führen und dann zu "Wahlen", die unter seiner Aufsicht und der "Mitwirkung" seiner Sicherheitskräfte durchgeführt würden. Oder umgekehrt: Soll die Konferenz eine Regimeablösung bringen. Wir wissen, dass die Amerikaner noch immer auf Regimewechsel hinarbeiten, die Russen aber eine Ablösung Asads um fast jeden Preis zu verhindern suchen.
Die westlichen und pro-westlichen Kräfte, Katar, Saudi-Arabien, die Türkei und sogar Libyen, müssten wohl als Vorbedingung für eine Konferenz ihre Waffenlieferungen an die Rebellen einstellen oder drosseln. So könnte Asad Zeit gewinnen und seine militärische Position festigen.
Zwei Entwicklungen haben dazu geführt, dass heute das Asad-Regime stärker dasteht als zu Beginn des Aufstandes. Die erste ist der Einsatz der Russen und der Iraner mit Diplomatie und Waffenhilfe. Die zweite: Asad erhält Unterstützung der libanesischen Hizbullah. Auch iranische Berater stehen ihm bei. Sie rekrutieren unter anderem irakische Kämpfer, die die Asad-Armee verstärken.
Religiöse Spaltung
Die Waffenbruderschaft, die jetzt zwischen dem Hizbullah und Damaskus besteht, vertieft die religiöse Spaltung, und zwar in Syrien, in Libanon und sogar im Irak.
Zwar betonten früher die schiitischen und sunnitischen Religionsgemeinschaften in allen drei Ländern ihre religionsgemeinschaftliche Identität. Doch sie betonten auch ihre nationale Zugehörigkeit.
Hizbullah wollte nicht nur eine schiitische Kampfgruppe im libanesischen Süden sein, sondern auch eine möglichst führende Kraft im religionsgemeinschaftlichen Gesamtmosaik Libanons.
Die Asads, Vater und Sohn, suchten als nationale Führer aufzutreten. Zeitweise war es sogar untersagt, vom alawitischen Hintergrund ihres Regimes in der Öffentlichkeit zu sprechen. Sie pflegten an den hohen Feiertagen in der sunnitischen Omayyaden-Moschee zum Gebet zu erscheinen. Der Irak hat den grausamen Bruderkrieg der Jahre 2006 und 2007 hinter sich. In diesem Krieg wurde Bagdad teilweise "ethnisch gereinigt". Alle Iraker wissen, dass ein solches Gemetzel unvermeidlich aufs Neue ausbrechen könnte, ja müsste - dann nämlich, wenn die gemeinsame Basis aller Religionsgemeinschaften, die in der Zugehörigkeit zum Staate Irak besteht, aufgelöst würde. Doch diese Basis wird dünner und dünner, weil die Regierung als ein Regime der Schiiten gesehen wird und auch zu oft als ein solches handelt, während die sunnitische Gemeinschaft seit dem vergangenen Januar zunehmend in offene Opposition gegen die Regierung getreten ist.
Al-Qaeda und Gewaltlose
Diese sunnitische Opposition im Irak besteht aus zwei Armen: dem gewaltwilligen, der im Zeichen von Qaeda wütet. Er ist für viele der beinahe täglichen Bombenanschläge verantwortlich. Der zweite Arm ist gewaltlos und jünger. Er organisierte Massendemonstrationen der sunnitischen Stämme gegen das "schiitische" Regime Malekis und begann so, vor fünf Monaten, öffentlich in Erscheinung zu treten. Den Gewaltlosen ist es bisher gelungen, ihre Massendemonstrationen weitgehend gewaltlos zu halten. Doch das Blutvergiessen im Lande nimmt zu. Die Bombenanschläge haben in den letzten Monaten so viele Opfer gefordert, wie seit dem Bürgerkrieg der beiden Schreckensjahre nicht mehr.
Soeben wird gemeldet, irakische Sicherheitskräfte, die sich unterwegs auf der wichtigsten Strasse befanden, die zur saudischen Grenze führt, seien auf eine "falsche Strassensperre" gestossen. Alle 14 Sicherheitsleute seien hingerichtet worden. Die falschen Strassensperren waren eine der hinterlistigsten und mörderischsten "Kriegslisten", die im algerischen Krieg der Armee gegen die Islamisten der FIS von beiden Seiten angewendet wurden. Guerilla-Kämpfer in Armee-Uniformen fingen an Strassensperren Armeeangehörige ab und ermordeten sie. Auch umgekehrt: Armeeangehörige verkleideten sich als islamistische Kämpfer und töteten Islamisten. Wenn diese Kampfmethoden im Irak um sich greifen, dürfte eine neue Kategorie des Blutvergiessens erreicht werden. Die Gefahr besteht in einer solchen Situation darin, dass die gewaltbereiten Gruppen auf Kosten der Gewaltlosen an Boden gewinnen.
In Syrien kämpfen Iraker gegen Iraker
Ungehemmte Massenmorde der einen gegen die andere Seite konnten bisher im Irak nicht deshalb verhindert werden, weil die Regierung umsichtig handelte. Vor allem die Erinnerung an die beiden Schreckensjahre, in denen beide Seiten stark litten, ist es, die einen solchen masslosen Gewaltausbruch noch bremst.
Im Grunde möchten alle Religionsgemeinschaften die Rückkehr dieser Zeiten vermeiden. Doch die Entwicklungen in Syrien strapaziert den verbleibenden Rest guten Willens, der es noch immer möglich macht, im Namen der irakischen Nation zusammenzuleben.
Irakische Kämpfer stehen nun auf beiden Seiten im syrischen Bürgerkrieg. Die Sunniten des irakischen Nordens und Westens haben schon seit Monaten die syrischen Rebellen verstärkt. Sie dürften weitgehend für die Bomben verantwortlich sein, die in Syrien eingesetzt werden. Bombenanschläge, Selbstmordanschläge und andere, sind seit Jahren ihre Spezialität. Doch neuerdings rekrutieren auch Untergrund-Agenten schiitische irakische Kämpfer für das Asad-Regime. Man wird schwerlich fehlgehen, wenn man als Drahtzieher und Hintermänner dieser Aktionen die iranischen Geheimdienste und Revolutionswächter vermutet.
Wird sich Asad durchsetzen?
Der syrische Bürgerkrieg ist nun immer mehr ein Krieg zwischen Angehörigen verfeindeter Religionsgemeinschaften. Er wirkt sich jetzt auch zunehmend auf die bereits bestehende Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten in den Nachbarländern Libanon und Irak aus. Dort vertieft er den Graben und erhöht die Spannungen.
Was wird geschehen, wenn Asad sich dank der russischen und iranischen Hilfe und der Schiitenmilizen aus Libanon und aus dem Irak durchsetzen kann? Für die syrische Bevölkerung wäre in diesem Fall eine Repressionswelle zu erwarten, die von den syrischen Geheimdiensten durchgeführt würde. Die gegenwärtigen Flüchtlinge an den Grenzen der Türkei, Libanons und Jordaniens würden aufgefordert werden zurückzukehren. Auch die inneren Flüchtlinge würden in ihre zerstörten Orte zurückkehren und versuchen, sie wieder aufzubauen. Doch es wird auch eine Inquisition geben.
Asad wird versuchen herauszufinden, wer unter den Sunniten gegen das Regime kämpfte – mit Worten oder Waffen. Diese Inquisition wird ohne Zweifel mit Hilfe von Denunzianten und mit Foltermethoden durchgeführt - in aller Stille, jedoch brutal genug, um flächendeckend Angst einzujagen. Kurz- oder gar mittelfristig wird Grabesstille einkehren. Die iranischen Ratgeber werden dafür sorgen, dass Stabilität in ihrem Sinne erreicht wird.
… und wenn die Rebellen siegen?
Sollte es aber den Rebellen gelingen, Asad zu verjagen, wären mehrere Szenarien möglich. Es kann besser oder noch schlechter werden. Denkbar wäre eine Aufsplitterung Syriens in einen sunnitischen und alawitischen Landesteil. Möglich wäre auch eine Fragmentierung des Landes in kleine und provisorische Herrschaftsgebiete der verschiedenen Milizen. Nicht auszuschliessen ist, dass sich eine der bewaffneten Gruppen durchsetzt. Dies gelänge wohl nur, wenn sie entscheidende Hilfe von aussen erhielte.
Man denke an Afghanistan nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem endgültigen Sturz der afghanischen Kommunisten. Damals, 1991, herrschten verschiedene "War Lords" über Teile des Landes. Beileibe nicht alle waren Islamisten. Dann setzten sich die islamistischen Taliban durch und nahmen 1996 Kabul ein. Dass ihnen dies gelang, ist fast zu 100 Prozent der Hilfe durch die pakistanischen Geheimdienste zu verdanken. Die Pakistani bewaffneten und finanzierten die Taliban - mit saudischer Hilfe und mit Duldung der CIA.
Russland wird nicht einknicken
Ein vergleichbarer Fehler müsste nicht unbedingt noch einmal wiederholt werden. "War Lords" würden auch in Syrien auftreten. Doch müssten die islamistischen unter ihnen nicht notwendigerweise gewinnen. Entscheidend wäre, wer wie viel Hilfe von aussen erhält. Dabei ist davon auszugehen, dass das Asad-Regime auf russische und iranische Hilfe zählen kann, sogar dann, wenn es nur noch einen alawitischen Reststaat beherrschen würde.
Die Russen werfen ihr ganzen Prestige in die Waagschale und machen öffentlich klar, dass sie einen Machtwechsel in Syrien nicht zulassen wollen. Dass sie plötzlich doch einknicken und nachgeben könnten, ist nur ein diplomatischer Wunschtraum.
Moskau fürchtet, dass ein "vom Westen herbeigeführter" Regimewechsel in Syrien weitere Regimewechsel zu seinen Ungunsten nach sich ziehen würde. Russland denkt da offenbar an den Kaukasus, Zentralasien, die Ukraine, Weissrussland und vielleicht sogar an Kaliningrad/Königsberg – also Gebiete, die Moskau als sein „näheres Ausland“, sein Einflussgebiet betrachtet.
Diese Sicht der Dinge kann man aus gelegentlichen Äusserungen des russischen Aussenministers ablesen. Dann zum Beispiel, wenn er sagt: Was in Syrien geschieht, wird entscheiden, wie die Weltpolitik nach Syrien betrieben wird.
Israels Rote Linie
Auch Iran wird schwerlich von Asad ablassen, sogar wenn seine Macht auf die Alawiten-Gebiete am Mittelmeer reduziert würde. Für Iran ist Syrien mit dem Verlängerungsarm der Hizbullah eine Art Schutzschild gegen den Angriff, mit dem zu rechnen ist, wenn der Atomstreit, wie zu erwarten, andauert oder eskaliert. Iran könnte so Israel einigermassen glaubwürdig mit Gegenschlägen bedrohen, falls der Krieg mit Israel losbrechen sollte.
Dieser Umstand erklärt auch die Haltung Israels gegenüber Syrien. Es gibt die von Israel gezogene Rote Linie. Der Hisbullah besitzt schon heute Raketen, die er auf Israel abfeuern kann. Doch Israel möchte mit allen Mitteln verhindern, dass Iran über syrisches Gebiet dem Hisbullah weitere, noch schlagkräftigere und modernere Raketen liefert. Auch Giftgaslieferungen aus Syrien an Hizbullah dürften Israel dazu veranlassen, möglichst rasch und entschieden zuzuschlagen.
Die Gesamtlage ist bereits heute so komplex und droht zukünftig noch komplexer und noch gefährlicher für die gesamte nahöstliche Welt zu werden. So kann man nachempfinden, dass der Westen sich an die Hoffnung klammert, doch noch etwas diplomatisch erreichen zu können.
Der bequeme westliche Weg der Scheinhoffnungen
Doch die möglichen Szenarien sollte man nicht aus den Augen verlieren. Wenn Asad gewinnt, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass Grabesruhe eintritt – auf Kosten des Hauptteils der syrischen Bevölkerung. Iran sähe sich im Streit mit dem Westen, auch im Atomstreit, gestärkt.
Sollte sich aber der Westen entschliessen, den Rebellen – oder zumindest Teilen von ihnen – zu helfen und ihnen die notwendigen panzerbrechenden Waffen zu liefern, würde sich die Lage plötzlich anders präsentieren. Doch die entscheidenden Fehler, wie sie in Afghanistan und später im Irak begangen wurden, müssten vermieden werden.
Soll man annehmen, dass die westlichen Mächte einer intelligenten Nahostpolitik a priori unfähig sind? In diesem Fall wäre es gewiss am besten, Asad möglichst rasch gewinnen zu lassen, koste es was es wolle - zunächst einmal für die unglücklichen Syrer und später wohl auch für alle anderen beteiligten Länder und Mächte.
Paris und London scheinen zu glauben, dass die politische Dummheit nicht unvermeidlich sei. Sie sprechen sich daher dafür aus, etwas Entschiedenes zu unternehmen und die Rebellen soweit zu unterstützen, dass sie gewinnen könnten. Doch in Washington ist man nicht ganz so sicher, ob dies der richtige Weg ist. Das Zögern in den USA ist begreiflich, nachdem Afghanistan und der Irak offensichtlich verspielt worden waren.
Und die Europäische Gemeinschaft als solche scheint auch nicht gewillt zu sein, ein volles Syrien-Risiko einzugehen. Wer dieses Risiko nicht auf sich nehmen will, wird den bequemen Weg der Scheinhoffnungen weiter gehen. Weder leistet man den Rebellen entscheidende Hilfe noch nimmt man zur Kenntnis, dass ohne eine solche Hilfe Asad gewinnen wird.
Einige westliche Länder reden davon, den Rebellen, „nicht tödliche Waffen“ zu liefern. Man verdrängt aber, dass sich ein Krieg mit solch „nicht tödlicher Waffenhilfe“ lange hinziehen dürfte. So lange, bis die Islamisten als letzte überlebende Kraft in einem zerbrochenen und chaotischen Syrien triumphieren könnten.