Am 27. November 2016 wird über die Atomausstiegs-Initiative der Grünen Partei Schweiz abgestimmt. Zwei Tage später, am 29. November 2016 wird es genau 70 Jahre her sein, seit ein gigantisches Stauseeprojekt im bündnerischen Rheinwald nach einer jahrelangen Propagandaschlacht definitv versenkt wurde. Was liesse sich aus einem Blick zurück in die Geschichte der schweizerischen Elektrizitätswirtschaft lernen.
Das Projekt und seine Initianten
Das Projekt des Konsortiums Kraftwerke Hinterrhein war in den zwanziger Jahren von der Motor Columbus AG ausgearbeitet worden. Kernstück der Anlage sollte ein Stausee von 280 Millionen Kubikmeter Inhalt bilden. Die Staumauer bei der Burgruine Splügen war 700 Meter lang und 115 Meter hoch projektiert. Der Stausee hätte eine Länge von 9 km aufgewiesen. Es war vorgesehen, das Dorf Splügen vollständig und Medels zum Teil zu überfluten, während von Nufenen zwei Häuser unter Wasser gesetzt worden wären. Insgesamt wären über 5 Quadratkilometer Kulturland vernichtet worden
Zwischen 150 (Schätzung des Kraftwerkkonsortiums) und 400 (Schätzung der Rheinwalder) Talbewohner wären zur Abwanderung in andere Talschaften Graubündens gezwungen worden. Die mögliche Energieerzeugung wurde mit 412 Millionen kWh für den Sommer und 672,6 Mio. kWh für den Winter angegeben, was etwa 15 % der damaligen schweizerischen Gesamterzeugung entsprach.
Dem Konsortium gehörten verschiedene Gesellschaften mit unterschiedlichen Anteilen an: Nordostschweizerische Kraftwerke AG, Baden (NOK, heute AXPO) 25 %, Elektrizitätswerke der Stadt Zürich (EWZ) 25 %, Bernische Kraftwerke AG (BKW) 10 %, Aare-Tessin AG für Elektrizität (Atel, heute Alpiq) 12 %, Elektrizitätswerke der Stadt Basel (EW Basel) 3 %, Rhätische Werke für Elektrizität, Thusis (RhW) 25 %, (davon 10 % Kraftwerke Brusio, 15 % Società Edison, Mailand). Finanziell und personell waren diese Firmen eng mit verschiedenen Unternehmen des In- und Auslandes verflochten.
Von der Gemeindeversammlung bis zum Bundesrat
Im April 1930 hatten die Rhätischen Werke für Elektrizität erstmals an die drei Gemeinden das Gesuch um Verleihung der Stauseekonzession gestellt. Dieses war noch im selben Monat von allen Gemeinden abgelehnt worden.
In den folgenden Jahren wurde es still um das Hinterrheinprojekt. Die Rhätischen Werke führten indessen ihre Studien und Vorbereitungen weiter, und im Oktober 1941 wurde der Öffentlichkeit vom Schweizerischen Elektrotechnischen Verein und vom Verband Schweizerischer Elektrizitätswerke ein Programm für den Bau neuer Kraftwerke in den nächsten zehn Jahren bekanntgegeben. Das Projekt Hinterrhein mit dem Stausee Rheinwaid figurierte darin an oberster Stelle.
Die Rheinwalder reagierten rasch: Schon am 16. November wurde eine ausserordentliche Landsgemeinde in der Kirche Splügen abgehalten. Es kam zu einem Massenaufmarsch, und in geheimer Abstimmung sprachen sich sämtliche Teilnehmer gegen das Stauseeprojekt aus. Eine entsprechende Resolution ging an den Kleinen Rat des Kantons Graubünden (heute: Regierungsrat) und an den Bundesrat. Eine zwölfköpfige Kommission wurde mit der Abwehr der drohenden Gefahr beauftragt. Sie nannte sich «Komitee Pro Rheinwald». Im Mai 1942 wurde den drei Gemeinden die offizielle Konzessionsofferte der Werke unterbreitet, am 23. Juli wurde diese in Splügen, Medels und Nufenen bei einer Stimmbeteiligung von 93 % in geheimer Abstimmung einstimmig abgelehnt.
Schon vorher war das Konsortium mit der Bitte an den Bundesrat gelangt, dieser möge in Anwendung seiner ausserordentlichen Kriegsvollmachten eingreifen. Am 30. September 1939 hatte der Bundesrat nämlich vom Parlament umfassende Vollmachten erhalten, «um die zur Behauptung der Sicherheit, Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz, zur Wahrung des Kredites und der wirtschaftlichen Interessen des Landes und zur Sicherung des Lebensunterhaltes erforderlichen Massnahmen zu treffen.»
Der Bundesrat befürwortete in seiner Antwort das Projekt im Prinzip, was die Rheinwalder nicht sehr erstaunte. Denn der bundesrätliche Delegierte für Elektrizitätswirtschaft war ein gewisser Dr. Henri Niesz, im Hauptberuf Direktor der Motor Columbus AG. Indessen verwies die oberste Landesregierung das Konsortium doch auf den ordentlichen Rechtsweg, ohne zur Anwendung ausserordentlicher Vollmachten Stellung zu nehmen.
Ein solcher Vollmachtenbeschluss über Verfassung und Gesetz hinweg, aufgebaut auf einer behaupteten Notlage des Landes, wäre jedoch schlechthin nicht zu rechtfertigen gewesen, weil der Rohstoffmangel ohnehin keinen Baubeginn vor Kriegsende erlaubt hätte und das Werk bei einer Bauzeit von etwa zehn Jahren für eine Behebung des kriegsbedingten Energiemangels ohnehin nicht in Betracht gekommen wäre. Der Bundesrat musste deshalb das Konsortium auf den ordentlichen Rechtsweg verweisen.
Im Gegensatz zu den meisten andern Kantonen sind in Graubünden die Gemeinden über die Wasserkräfte verfügungsberechtigt. Der Kanton ist lediglich Aufsichtsbehörde, hätte aber nach bündnerischem Wasserrechtsgesetz die Gemeinden zur Konzessionserteilung anhalten können, wenn sie sich «ohne genügende Gründe» ablehnend verhalten hätten. Das Konsortium verneinte in seiner Argumentation vor allem das Vorliegen solcher «genügender Gründe», indem es entgegen den Absichten des Gesetzgebers ein «öffentliches Interesse» über die «Partikulärinteressen» der Gemeinden gestellt haben wollte.
Im September 1942 gelangte das Konsortium mit dem Gesuch an den Kleinen Rat des Kantons Graubünden, die Gemeinden zur Erteilung der Konzession zu zwingen. Das Rechtsverfahren zog sich in den Jahren 1942 und 1943 hin. Das Konsortium betonte immer wieder die absolute volkswirtschaftliche Notwendigkeit des Werkes, stellte eine Nachkriegs-Wirtschaftskrise in Aussicht und bezeichnete das Rheinwaldwerk als geeignete Massnahme, um der drohenden Arbeitslosigkeit zu begegnen. Es gebe keine wirtschaftlich tragbaren Alternativen. Im Fall einer Ablehnung werde der Kanton Graubünden den Anschluss an andere Kantone verpassen und seine Wasserkräfte nicht nutzbar machen können. Das Konsortium würde auf keinen Fall an den Ausbau anderer graubündnerischer Werke gehen. Den Rheinwaldern wurde vorgeworfen, «an den Bedürfnissen der Landesversorgung zugunsten untergeordneter und missverstandener regionaler Interessen vorüberzusehen».
Die Rheinwalder Gemeinden ihrerseits bezweifelten die wirtschaftlichen Prognosen des Konsortiums und wiesen darauf hin, dass die gegenwärtige Energieverknappung kriegsbedingt und durch das Rheinwaldwerk nicht innert nützlicher Frist zu beheben sei. Im übrigen würden schon die personellen und finanziellen Verbindungen des Konsortiums zum Ausland den Schluss zulassen, dass ein grosser Teil der im Rheinwald produzierten Energie für den Export bestimmt wäre. Überdies gebe es Gutachten anerkannter Fachleute, nach denen durchaus wirtschaftliche Kraftwerke anderswo im Kanton ohne Umsiedlungen zu erstellen wären.
Am 11. März 1944 fiel der Entscheid: Der Kleine Rat lehnte, gestützt auf zwei Rechtsgutachten, das Gesuch des Konsortiums ab. Das Komitee Pro Rheinwald wurde mit einer Flut von Glückwunschtelegrammen und Briefen aus der ganzen Schweiz überschwemmt. Das Kraftwerkkonsortium jedoch rekurrierte am 6. April 1944 an den Bundesrat: «Verglichen mit den gesamtschweizerischen Interessen am Ausbau des Hinterrheinwerkes, darf (...) den Bewohnern des Rheinwalds das (...) Opfer zugemutet werden, wenn nicht ein eigentlicher Notstand für die schweizerische Industrie, das Gewerbe, aber auch für die einzelne Haushaltung entstehen soll.»
Der Kampf um die öffentliche Meinung
Das Konsortium rührte seine Propagandatrommel an vielen Fronten. So ist zum Beispiel dem «Wehrbrief 19c» der Sektion Heer und Haus der Generaladjutantur zu entnehmen, dass bei den Hinterrheinwerken «die Existenzfähigkeit des Landes auf dem Spiele steht». Das Komitee Pro Rheinwald protestierte umgehend gegen diese Behauptung, mit Kopie an den General. Nicht erfolglos offenbar, denn in einem Brief vom März 1943 formulierte Guisan die Hoffnung, dass «die Talschaft den Kampf um die heimatliche Scholle bestehen werde».
Anfang 1943 gab Hans Rudolf Schmid, ein Wirtschaftskreisen nahestehender Publizist («Das Jelmoli-Buch», «Die Geschichte der Zürcher Börse»), eine Propagandaschrift für das Rheinwaldwerk heraus: «Der Kampf um das Rheinwald».
Diesen Kampf gegen die Rheinwalder jedoch führte Schmid, der ehemalige Pressechef der Landi 39 und spätere langjährige Herausgeber von «Das Beste aus Reader’s Digest», unter der Gürtellinie: Er sieht die Rheinwalder «geleitet von einseitigen Stimmen aus den Städten», unfähig zur Einsicht, «dass die Erbauer des Kraftwerkes im Landesinteresse handeln»; er bezweifelt die Einhelligkeit der Talbewohner und stellt hämisch fest: «Mit Grundeigentümern in den Rheinwalder Gemeinden sind bis jetzt schon zehn Kaufrechtsverträge abgeschlossen worden.» Die Broschüre wurde in zahlreichen Exemplaren vom Konsortium vertrieben; schon dieser Umstand steht in einem gewissen Gegensatz zu Schmids Beteuerungen, dass er als «Unbeteiligter» zur Sache Stellung nehme und ihm nur daran gelegen sei, «als gewöhnlicher Bürger und guter Schweizer für die ganze Sache die richtigen Massstäbe und den Standort zu finden.»
Nur in wenigen Zeitungen jedoch vermochten die Kraftwerkbefürworter richtig Fuss zu fassen. Die meisten Blätter, die sich nicht konsequent für die Rheinwalder aussprachen, behandelten das Thema kontradiktorisch.
Im Frühjahr 1943 gab dann das Komitee eine eigene Broschüre heraus: «Rheinwald – Die Talschaft wehrt sich gegen das Stauseeprojekt am Hinterrhein». Als Gemeinschaftsproduktion vereinigte die Schrift zwanzig Beiträge von Rheinwaldern und auswärtigen Kraftwerkgegnern.
Triumph der Minderheit
Nach dem Entscheid des Kleinen Rates vom 11. März 1944 hatten die Rheinwalder aufgeatmet. Zu früh, wie sich weisen sollte. Nachdem man vonseiten des Konsortiums offenbar erkannt hatte, dass die juristische Position der drei Gemeinden kaum anfechtbar war, wurde nun desto mehr Gewicht auf die Beeinflussung der Öffentlichkeit gelegt.
«Offenbar scheinen nun aber die Kreise, welche an der Verwirklichung des Grosskraftwerkes Hinterrhein interessiert sind, entschlossen zu sein, alles zu unternehmen, um beim Volk einen Stimmungswandel herbeizuführen und die massgebenden Behörden damit indirekt im Sinne ihrer Forderungen unter Druck zu setzen. Nur daraus ist zu erklären, dass in massgebenden Kreisen der schweizerischen Elektrizitätswirtschaft auch heute wieder bewusst Propaganda für das Hinterrheiner Werk gemacht und dabei zum Teil mit Argumenten gefochten wird, deren Richtigkeit vom Kleinen Rat in seinem Entscheid bereits eindeutig widerlegt worden war. Wir übersehen auch nicht die Tatsache, dass es dem Konsortium inzwischen offenbar gelungen ist, politische Kreise für seine Interessen zu gewinnen. Und noch weiter gehend, erfasste die Propaganda selbst Gruppen des freien Schriftsteller- und Künstlertums», schrieb man aus Splügen, Medels und Nufenen in einem Aufruf an die Vorstände der bünderischen Gemeinden zum 1. August 1945.
In der Tat zeigen insbesondere zwei Publikationen des Jahres 1945, dass das «freie Schriftsteller- und Künstlertum» so frei eben nicht war. «Verständigung zum Wohl der Heimat» nannte Werner Reist, der spätere Autor so unterschiedlicher Werke wie «Schön ist die Welt», «Du, das Geld und die Bank» (Herausgeber: Schweiz. Kreditanstalt, heute Credit Suisse) und «Sang der Wahrheit» seine Lobeshymne auf das Rheinwald-Kraftwerk, worin er mit der Wahrheit nicht eben zimperlich umging.
Noch aufwendiger war Edwin Wiesers «Triumph des Geistes». Auf 133 dezent in Leinen gebundenen Seiten mit zahlreichen Kunstdrucktafeln versuchte der Autor von «Das Reich ist nicht von dieser Welt» als Vertreter «nicht der politischen, wirtschaftlichen oder industriellen, sondern der geistigen Schweiz» das Problem Rheinwald zu einer «Lösung vom Geiste her» zu führen. Diese geistige Lösung musste den Rheinwaldern jedoch bekannt vorkommen: Sie glich nämlich im Endeffekt der technisch-wirtschaftlichen Lösung des Konsortiums wie ein Ei dem andern.
Vielenorts zeichnete sich ein bedrohlicher Stimmungsumschwung ab. Der Bündner Handels- und Industrieverein meinte feststellen zu müssen, dass der Entscheid des Kleinen Rates «in Graubünden immer mehr als Fehlentscheid empfunden werde». In der Presse mehrten sich die befürwortenden Artikel, Bundesräte forderten öffentlich eine baldige Realisierung des Werks. So etwa Bundesrat Stampfli am 9. September 1945 in einer Rede am Aargauer Volkstag: «Der weitere Ausbau unserer Wasserkräfte ist zu einer wichtigen Landesfrage geworden, deren Entscheidung nicht mehr allzulange aufgeschoben werden darf. Eine Verständigung mit den widerstrebenden Bevölkerungen der beteiligten Gebirgsgegenden ist im Landesinteresse dringend geworden.» Damit hieb Stampfli in dieselbe Kerbe wie das Konsortium, welches in einer Propagandabroschüre so perfid wie lapidar versprach: «Wenn Rheinwalder umziehen, erhalten alle Schweizer mehr Licht, Kraft, Wärme und Arbeit.»
Die Rheinwalder blieben fest. Am 6. Oktober 1945 wurde in Splügen, Medels und Nufenen nochmals abgestimmt. Bei einer Stimmbeteiligung von 95 % lehnten die Stimmbürger das Projekt erneut einstimmig ab. Nachdem der Bundesrat in nur zu eindeutiger Absicht seinen Entscheid mehr als zwei Jahre hinausgezögert und wiederholt «vermittelnd» einzugreifen versucht hatte, musste er schliesslich am 29. November 1946 angesichts der klaren Rechtslage die Beschwerde des Konsortiums im vollen Umfang ablehnen. Ohne dass es der Schweiz deswegen in den folgenden Jahrzehnten an Licht, Kraft, Wärme oder Arbeit gemangelt hätte ...