Am 13. September hat die türkische Zentralbank den Leitzins sehr kräftig angehoben: von 17,5 auf 24 Prozent. Er übertrifft damit die gegenwärtige Inflationsrate von 17,9 Prozent. Der neue Leitzins ist der zweithöchste weltweit. Argentinien hat einen solchen von 60 Prozent.
Der Schritt war notwendig, um die hohe Inflation zu bekämpfen. Er kam insofern überraschend, als Präsident Erdogan hohe Zinsen ablehnt und immer wieder darauf bestanden hatte, dass niedrige Zinsen notwendig seien, um das Wachstum der Wirtschaft zu erhalten. Gleichzeitig mit seiner Kritik an der Zentralbank hatte Erdogan sich selbst die Vollmacht gewährt, den Zentralbankchef zu ernennen. Die Unabhängigkeit der Zentralbank war aus diesen Gründen in Zweifel gezogen worden. Doch die Zweifel haben sich als ungerechtfertigt erwiesen.
Unmittelbar vor der Krisensitzung, in der die Zentralbank die massive Erhöhung beschloss, hatte Erdogan die Bank einmal mehr kritisiert und seine These wiederholt, dass die Türkei sich durch Wirtschaftswachstum aus ihrer Krise befreien müsse, weshalb Niedrigzinsen notwendig seien. Die Bank jedoch hat seine Weisungen nicht befolgt. Die Türkische Lira hat dieses Jahr 40 Prozent ihres Wertes gegenüber dem Dollar verloren. Ihr Wert stieg nach der Leitzinserhöhung kurzfristig wieder um 5 Prozent an. Doch später fiel er wieder zurück und hat sich dann zwischen 6,2 und 6,3 Lira pro Dollar gehalten.
Hohe Schulden in US-Dollars
Die Frage der Unabhängigkeit der Zentralbank war natürlich nicht die einzige Hypothek, welche die türkische Wirtschaft belastet. Der Streit mit den USA wirkt sich aus, und die türkische Wirtschaft hat hohe Schulden in harten Auslandwährungen. Die Dollarschulden des privaten Sektors werden auf 146 Milliarden Dollar geschätzt. Der Dienst an diesen Schulden ist durch den Wertverlust der Lira umso teurer geworden. Dies gilt für die Banken und für die privaten Firmen. Die Banken sollen über 40 Prozent ihrer Darlehen in Dollars gewährt haben. Dies war wegen der niedrigen Zinssätze während der vergangenen Jahre beliebt.
Wegen des raschen Wertverlustes der Lira wurden bisher viele Landverkäufe und Mietverträge, vor allem jene der Shopping Malls, welche die moderne Variante des Basars bilden, in Dollar abgeschlossen. Dies hat Erdogan nun durch Dekret verboten. Alle Verträge müssen innert dreissig Tagen in Lira umgeschrieben werden.
Ausländische Investoren können die türkische Staatsangehörigkeit erwerben, wenn sie genügend Geld in der Türkei anlegen. Die notwendigen Summen wurden bis auf ein Viertel der bisher geforderten Beträge reduziert.
Getrübte Wirtschaftsaussichten
Der Finanzminister und Schwiegersohn Erdogans, Berat Albayrak, sah sich veranlasst, ein neues Wirtschaftsprogramm für die nächsten zwei Jahre zu formulieren. Danach soll die Gesamtwirtschaft der Türkei dieses Jahr um 3,8 Prozent und das kommende um 2,3 Prozent wachsen. Bisher waren 5,5 Prozent vorgesehen.
Der Staat soll seine Ausgaben um rund 10 Milliarden Dollar reduzieren. Einige der geplanten Grossbauprojekte müssten zurückgestellt werden. Die Inflation, die im August 18 Prozent betrug, würde dieses Jahr weiter wachsen auf 20,8 Prozent, doch im folgenden Jahr absinken auf 15,5 Prozent. Die Arbeitslosigkeit, zur Zeit 11,35 Prozent, werde auf 12,2 Prozent ansteigen und 2020 auf 11,5 Prozent absinken.
Viele der betroffenen Geschäftsleute hatten gehofft, dass der Finanzminister Massnahmen ankündigen werde, um die Banken von ihren unrentablen Anleihen zu befreien. Es war von der Notwenigkeit einer Bad Bank zur Entsorgung der toxischen Anlagen die Rede gewesen. Die Behörde der türkischen Bankenaufsicht gab jedoch bekannt, es sei keine solche geplant. Albayrak erklärte, die Banken würden dieses Jahr keine Schwierigkeiten durchmachen.
Harte Zeiten für die Bevölkerung
Ob sich die Vorhersagen des Finanzministers als realistisch erweisen oder ob sie immer noch allzu optimistisch gehalten sind, ist Gegenstand einer Debatte. Sorgen machen sich die kritischen Experten in erster Linie über die Inflation und über die Solidität des Bankensystems.
Jedenfalls werden die Türken, wie der Finanzminister und Schwiegersohn einräumt, zunächst mit einer Inflationsrate von über 20 Prozent leben müssen. Auf die Dauer wird sich dies auf die Popularität Erdogans und seines Regimes auswirken. Doch der türkische Präsident hat seine Machtposition in der Türkei in den vergangenen zwei Jahren dermassen gefestigt, dass auch eine fallende Beliebtheit seiner Partei und Person ihn vorläufig nicht von der Macht verdrängen dürfte.