Diese Spezies ist im Begriff, die feste Oberfläche, die Ozeane, die Atmosphäre des Planeten mit einer Wucht umzugestalten, die vordem allein geologischen Kräften zugemutet wurde. Die Wirkmacht, dank der sich der Anthropos in die Erde und ihre Atmosphäre irreversibel einzeichnet, ist die Technik, weshalb die Bezeichnung „Technozän“ angemessener wäre.
Modifizierte Moskitos
Unerhörtes geschieht. Wir betreten die Terra incognita der synthetischen Natur. Zum Beispiel setzte kürzlich ein Team um die Entomologin Ruth Mueller in Terni (Umbrien) unter strengen Laborbedingungen genmodifizierte Moskitos frei, die sich mit natürlichen paarten. Die modifizierten Insekten können nicht stechen und dadurch auch nicht den Malariaparasiten übertragen. Auf diese Weise wollen die Forscherinnen und Forscher Wege untersuchen, auf denen man designte Charakterzüge in eine Population einschleusen kann. Und nicht nur das. Die modifizierten Moskitos vererben ihre Eigenschaften auch nach modifizierten Mendelschen Gesetzen. Sind wir im Begriff, gar die Naturgesetze zu designen?
„Zweite Genesis“?
Genau gesehen befinden wir uns hier noch im Bereich der traditionellen Biotechnologie, die im Grunde gleich wie die Natur vorgeht. Jede biotechnische Intervention setzt bei bestehenden Organismen an und bastelt an ihrem Erbgut herum, fügt Gene hinzu oder entfernt sie. Sie manipuliert also Abstammungsprodukte der Evolution oder Koevolution (das heisst domestizierte Lebewesen). Die synthetische Biologie geht darüber hinaus. Sie beginnt mit Bio-Bausteinen, synthetisierten DNA-Sequenzen, die bekannte Eigenschaften besitzen. In der aktuellen Praxis implantiert man solche Sequenzen einem einzelligen Organismus, einem Bakterium. Die Idee dabei ist, einen neuen Organismus mit vorgefertigter DNA „von Grund auf“ herzustellen. Entsprechend prahlerisch tönen denn die Ansprüche der synthetischen Biologie. Craig Venter zum Beispiel möchte Millionen von Jahren der Evolution „kurzschliessen“ und eine „zweite Genesis“ einleiten.
Vorderhand ist das Geklotze. Trotzdem, das Zukunftsszenario, das hier beschworen wird, raubt einem kurz den Atem: Synthetische Biologie ermöglicht eine fundamental neue Art der biotischen Entwicklung, die sich tendenziell abkoppelt von der natürlichen Linie des über drei Milliarden Jahre langen Evolutionsprozesses. Der post-darwinsche Horizont einer neuen Natur öffnet sich. Und damit wächst die Besorgnis über eine Umweltintervention mit kaum abzusehenden Folgen und Gefahren.
Die aristotelische Grundunterscheidung
Unser Unbehagen gegenüber der synthetischen Biologie beruht aber in der Regel nicht so sehr auf Unwissen und diffusen Ahnungen über mögliche Gefahren als vielmehr auf einer impliziten Werteordnung. Das bisherige Umweltdenken ist geprägt von einer Grundunterscheidung, die der Naturphilosophie von Aristoteles entstammt: der Differenz zwischen dem Natürlichen und dem Künstlichen. Natürliche Dinge sind in ihrem Dasein und ihrer Entwicklung von innen her bestimmt. Eine Eichel wächst von selbst aus zu einer Eiche, und dieses „von selbst“ ist der Antrieb der Entwicklung (ihre „Teleologie“). Ein Stück Holz wächst nicht von selbst zu einem Tisch heran. Sein Prinzip liegt ausserhalb, in den Absichten und Plänen des Schreiners. In diesem Sinn ist alles Natürliche unabhängig vom Menschen, alles Künstliche dagegen nicht.
Darauf beruht auch der Unterschied zwischen einer unberührten und einer vom Menschen „berührten“ Natur. Tatsächlich verschwimmt der Unterschied im Technozän zusehends. Einerseits gibt es immer weniger unberührte Gebiete auf der Erde; andererseits bauen wir künstliche automatische Systeme, die nun selber eine gewisse Unabhängigkeit vom Menschen manifestieren, quasi aus eigenem Antrieb agieren. Es nimmt also eine Hybridisierung von Natürlichem und Künstlichem Gestalt an, von deren Fortgang und Auswirkung auf den Menschen wir uns noch kaum eine Vorstellung machen können. Umso mehr drängt sich ein Umweltethos auf, das sich nicht an einer ursprünglichen, unberührten Natur orientiert, sondern an einer immer schon vom Menschen „heimgesuchten“.
Warum ist nur natürliche Natur wertvoll?
Das heisst, unsere Naturethik ist teilweise noch antik: Nur natürliche Natur ist wertvoll. Wenn nun aber Natur ohnehin schon immer Komponente eines hybriden Ökosystems aus Mensch, Technik und Umwelt ist, dann heisst die vordringlichste Devise nicht „Erhaltung“, sondern „Gestaltung“ – nicht im Sinne des biotechnischen Designs, sondern des „Kultivierens“: Natur als Kulturprojekt. Uns Schweizern ist diese Idee alles andere als fremd. Ja, sie hat Tradition, gelten die Alpen schon lange als Kulturlandschaft. Landschaft aber ist immer ein Hybrid aus Mensch, Technik und Natur. Und der Mensch in diesem Hybrid ist heute zunehmend der Homo urbanus. In diesem Sinne liesse sich das Kultivieren als „Verlandschaftung“ auffassen, und dies gerade in urbanen Gebieten.
Statt also Requiems auf eine natürliche Natur zu halten, erhielte der Umweltschutz im Technozän eine andere Stossrichtung, ausgerichtet auf die Balance – im Besonderen die Resilienz – von hybriden Ökosystemen. Der Mensch kann gar nicht anders leben als interventionistisch. Nun müsste freilich die Intervention nicht, wie bisher häufig, unbewusst, unbedacht, ungeplant erfolgen, sondern bewusst, bedacht, geplant – ergo: verantwortet.
Auch Nutzzonen sind „Natur“
Konkret könnte dies bedeuten, auch Nutzzonen – industrialisierte, bewirtschaftete, verstädterte, degradierte Gebiete – vermehrt als „Natur“ wahrzunehmen; ihnen eine „Würde“ zu verleihen, die auf dem praktischen Gebot des „Seinlassens“ beruht. Denn da, wo man eingreift, kann man das Eingreifen auch lassen. Solches Seinlassen ist reflexiv, quasi eine Intervention gegen die Intervention. Es bedeutet daher nicht einfach Verzicht, sondern ein Wollen, dass etwas so ist, wie es ist, und so gelassen wird: Aktive Passivität.
Betrachten wir das Beispiel der Biodiversität. Wir sind heute in der Lage, diese Diversität nach unserer Massgabe zu gestalten. Das wäre die aktive Intervention der Gentechnologie und synthetischen Biologie. Wir sind aber auch in der Lage – durch kritische Umsicht und Einsicht –, diese Gestaltung weiterhin der Natur zu überlassen – der „natura naturans“, wie man die schaffende Natur früher nannte. Zum Beispiel breiten sich Neozoen und Neophyten in den Städten aus. Wir können dieser „Invasion“ durch Ausrotten oder Umsiedeln begegnen; wir können aber auch passiv interventionistisch erst einmal abwarten und beobachten, ob und wie sich eine neue urbane Ökologie einrichtet. Wir wissen viel zu wenig über solche Dynamiken. Wer sagt denn, welche Rolle eine Spezies in einer Ökologie spielt? Ist sie von der Natur vorgeschrieben? Nicht selten haben sich in der Vergangenheit „Eindringlinge“ als äusserst nützlich und systemstabilisierend erwiesen.
Die Evolution lacht immer zuletzt
Evolution bedeutet zunehmend Koevolution von Mensch, Technik und Natur. Das Technozän ist deshalb nicht das Zeitalter der Technik, sondern der klugen Eingliederung der Technik in eine umfassendere Lebensordnung. Sie würde die Alternative zwischen Herrscher und Mitbewohner des Planeten zugunsten einer Vielfalt von Lebensentwürfen aufgeben. Also nicht nur Biodiversität, sondern Kultur- und Technodiversität in unserer Naturbeziehung. Tatsächlich sind wir immer Herrscher und Mitbewohner, je auf spezifisch lokale Art. Indem wir über potente Instrumente der Naturintervention verfügen, sind wir zweifellos Herrscher; indem wir die Grenzen und unbeabsichtigten Folgen dieser Instrumente nicht genügend kennen, sind wir Mitbewohner, insofern immer noch der „Wildnis“ des Nichtkontrollierten ausgesetzt. Dieser Wildnis begegnen wir neuestens in der Tiefendimension der Nanotechnologie. Wir haben keine Ahnung, wie sie hier zu zähmen ist. Ohnehin wird sich im Technozän der gestaltende Eingriff in die Natur noch deutlicher als das erweisen, was er schon immer war: als ein Hasardspiel. Die Evolution ist Meisterin dieses Spiels – und sie lacht immer zuletzt.