Christina Omlin: Vor dem Roman „Der Name der Rose“, der 1980 in Italien erschien, war Umberto Eco einer grossen Öffentlichkeit nicht bekannt. Wie hast Du ihn persönlich entdeckt?
Marco Meier: Als Philosophiestudent ist man mit Umberto Eco, dem Semiotik-Professor in Berührung gekommen, mit seiner berühmten Einführung in die Zeichenlehre. Wer ausserdem mit der Intellektuellen-Szene in Italien vertraut war, kam ebenfalls nicht an ihm vorbei. In den Siebziger Jahren hat er zum Beispiel für die kommunistische Zeitschrift „Il Manifesto“ publiziert.
Als Literat aber war er noch völlig unbekannt. Wie hast Du vom Buch „Der Name der Rose“ erfahren?
Ich war damals bei der Weltwoche angestellt und habe auf der Rückfahrt von einem Griechenlandurlaub von einem italienischen Journalisten erfahren, dass im Moment ein grosser Roman in den italienischen Feuilletons für Furore sorge: „Il nome della rosa“. Im Herbst 1982 sollte das Buch in deutscher Übersetzung auf die Frankfurter Buchmesse kommen. Ich habe es dann an der nächsten Redaktionssitzung der Weltwoche zur Besprechung vorgeschlagen. Man hat das damals als „Professorenroman“ zu einem mittelalterlichen Thema abgetan, und ich habe mit Biegen und Brechen 100 Zeilen erhalten.
Du hattest es bereits auf Italienisch gelesen und anders eingeschätzt.
Ich fand das Buch sensationell: Darin steckt die Geschichte der gesamten mittelalterlichen Philosophie, die Entwicklungen der mittelalterlichen Ordensgemeinschaften, es ist zudem ein Krimi, es gibt Anspielungen auf Sherlock Holmes und sogar auf die Popkultur.
Du hast Umberto Eco dann in Bologna getroffen, obwohl er damals Journalisten nicht empfangen hat. Wie hast Du das geschafft?
Mit der deutschen Übersetzung stieg das Medieninteresse auch im deutschsprachigen Raum enorm. Doch Umberto Eco war inzwischen bekannt dafür, dass er für Journalisten nicht viel übrig hatte, weil sie immer die gleichen Fragen stellten. Auch ich habe x-mal auf seinen Telefonbeantworter gesprochen. Sein Beantworter-Spruch war legendär: „Hier ist Umberto Eco. Ich freue mich über ihren Anruf, aber ich antworte nie.“
Ich bin dann mit dem Segen der Redaktion einfach losgereist und wusste, dass er eine Semiotik-Vorlesung an einem kulturwissenschaftlichen Institut halten würde. Ich bin mit dem Fotografen in die Vorlesung zum Thema „Die Bedeutung des Hundes im Mittelalter“ reingesessen. Es war sehr spannend und gleichzeitig sehr humorvoll, er hat sich auch mal vom Podium herunter begeben um sich eine Zigarette bei einer Studentin zu holen. Er war eine unglaubliche, sehr energiegeladene Figur. Das was man hierzulande „eine Saftwurzel“ nennt.
Und wie bist Du schliesslich von ihm empfangen worden?
Ich habe mich beim Sekretariat gemeldet und angegeben, dass ich bei Umberto Eco doktorieren möchte. Ich erhielt einen Termin und erschien mit dem Fotografen in seinem Büro. Umberto Eco war alles andere als begeistert. Ich habe mich dann entschuldigt: Ich sei zwar Journalist aber auch Philosophiestudent. Er wollte mich zuerst abwimmeln, bot mir aber dann an, bei einem Mittagessen mit einem anderen Professor dabei zu sein. Ich könne auch Fragen stellen. Wenn sein Daumen nach oben gehe, gebe es eine Antwort, Daumen nach unten, keine Antwort.
Und das hat er tatsächlich so gemacht?
Das hat er so durchgezogen. Während die beiden das ausgiebige Mahl sichtlich genossen, habe ich ihm meine Fragen gestellt. Bei guten Fragen war er ganz wach, bei schlechten hat er einfach weiter gegessen. Schliesslich hatten wir einen guten Draht zueinander gefunden, und er hat uns danach auf eine Stadtführung durch Bologna mitgenommen. Er zeigte uns die Stelle, wo die erste europäische Universität entstanden war, wo Mussolinis Balkone bauen liess, um zum Volk zu reden – es war fast wie eine weitere Lehrstunde in Semiotik. Zum Schluss drückte er mir ein Papier in die Hand, welches er fortan allen Journalisten geben wollte: Da stünden alle Antworten drin.
Dann bist Du offenbar eine zeitlang im deutschsprachigen Raum einer der wenigen geblieben, die ein Interview erhalten haben?
Im Frühjahr 1983 glaube ich schon. Nachher hat er sich natürlich gegenüber den Medien auch geöffnet. Er hat aber auch später einmal rückblickend gesagt, er hätte eigentlich nur einen Roman schreiben wollen, und was sei mit ihm passiert? Er sei dauernd auf irgendwelchen Flughäfen unterwegs zu irgendwelchen Empfängen, trinke Whisky und seine Leber sei kaputt. Das war so ein typischer Satz für ihn.
Wie kam sein Erfolg damals eigentlich im universitären Milieu an? Hat das auch für Kritik gesorgt?
Es hat schon Diskussionen ausgelöst. Die sogenannten „Professorenromane“ waren in vielen Fällen misslungen. Doch jeder, der dieses Buch gelesen hatte, musste neidlos anerkennen, dass Umberto Eco hier ein Geniestreich gelungen war. Die Kombination von grosser narrativer Kraft, Geistesgeschichte und Krimi findet man selten in einem Roman.
In Italien war er zudem in den universitären Kreisen als einer der ersten mit Forschungs-Analysen der Populärkultur bekannt geworden. Er hat die Comics-Sprache studiert, die Massenmedien und ihre Formate in Radio und TV.
Der Corriere della Sera hat zu seinem Tod geschrieben: Der Mann, der die italienische Kultur verändert hat.
Man könnte ihn vergleichen mit Roland Barthes in Frankreich und seinen Alltagsmythen. Im deutschsprachigen Raum hat das erst später eingesetzt mit Philosophen wie Peter Sloterdijk, dem Kulturtheoretiker Klaus Theweleit oder Elisabeth Bronfen in der angelsächsischen Literatur. Er war damals in diesem Bereich ein absoluter Avantgardist.
Umberto Eco war auch politisch engagiert. Er kam ursprünglich aus katholischen Kreisen und hat sich dann hin zu kommunistischen Bewegungen entwickelt. Es war die Zeit des historischen Kompromisses in der italienischen Politik, eine Art unheilige Allianz zwischen Katholiken und Kommunisten.
Wie wurde er in dieser Rolle wahrgenommen von der italienischen Öffentlichkeit?
Es war die letzte Phase einer intellektuellen Kultur in Italien, bevor Kreise der Rechten rund um den Unternehmer und Politiker Silvio Berlusconi immer mächtiger wurden. Umberto Eco trat als Kritiker von Berlusconi auf. Er war regelmässiger Kolumnenschreiber bis zu seinem Tod, worin er schonungslos den italienischen Alltag analysierte. Was für ihn wirklich schmerzhaft gewesen sein muss, war der Verkauf seines Verlags Bompiani an Berlusconis Medienimperium.
Hast Du sein letztes Buch, das 2015 erschienen ist, gelesen?
Sein letztes Buch „Nullnummer“ – eine Zeitung, die ihre Seele für eine politische Idee verkauft – ist eine harte Kritik an der aktuellen Medienlandschaft, die sich von Kommerz und Korruption über den Tisch ziehen lässt. Schriftstellerisch hat mich das etwas ratlos gelassen, wenn man seine Sprachgewalt sonst kennt. Er hat das Zynische eines heutigen Redaktionsdiskurses aber eigentlich gut wiedergegeben.
Wenn ich an unsere erste Begegnung Anfang der Achtzigerjahre zurück denke und welche Entwicklung die Medien seither gemacht haben, kann ich das letzte Buch absolut in diesem Kontext sehen. Es waren die letzten Zeiten, in denen man sich noch vollkommen auf das Schreiben konzentrieren konnte: einem Autor hinterher reisen, sich für mehrere Tage aus der Redaktion abmelden, um dann einen Artikel im Weltwoche-Magazin über acht Seiten zu schreiben. Das sind Verhältnisse, die man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann.
Wen und was siehst Du, wenn Du heute an ihn denkst?
Er war ein Titan – ein Universalgelehrter. Ich bezweifle, dass wir heute nach seinem Tod noch einen Menschen von seinem Format haben. Dieser ausgeprägte Intellekt in der Verbindung mit seiner unbändigen Lebenslust – er war ein Energiebündel –, das war schon einzigartig. Es war alles in seinem Kopf drin. Die Vorlesung, die ich erwähnt habe, „Die Bedeutung des Hundes im Mittelalter“: Das hatte Unterhaltungswert, Dichte und Kenntnisreichtum, das war einmalig.
Romane schreiben hatte für ihn nur auf den ersten Blick etwas mit Wortschöpfung zu tun. Das wichtigste für ihn war, dass man fähig ist, eine völlig neue Welt entstehen zu lassen. Das hat alle seine Bücher ausgezeichnet. Schon mit den ersten paar Sätzen ist man in einem völlig anderen Kosmos versunken. Das hat „Der Name der Rose“ exemplarisch gezeigt. Sein Motiv dafür war nach seinen eigenen Aussagen, dass er „einen Mönch umbringen“ wollte und damit seine katholische Vergangenheit aufgearbeitet hat. Hinter jedem seiner Romane steckten solche vitalen Interessen am politischen und gesellschaftlichen Leben seiner Zeit.
Danke für das Gespräch, Marco Meier.