Welch ein Schauspiel war diese Gesamterneuerungswahl der Schweizer Landesregierung! In anderen Ländern heisst das Parlament respektvoll «Das Hohe Haus», doch das Palais Fédéral zu Bern gleicht oft eher einem Provinztheater. Schon die legendäre Luzerner Ständerätin und Ständeratspräsidentin Josi Meier, eine der Parlamentarierinnen der ersten Stunde, sagte einst, das Bundeshaus sei nichts als eine Bühne, auf der alle eine Rolle spielten: «Die wirklichen Entscheidungen werden hinter verschlossenen Türen gefällt.»
Am Mittwoch wäre das meiste Geschehen nach wochenlangem Säbelrasseln und Taktieren am Ende ganz manierlich abgelaufen, hätte nicht die SVP einmal mehr eine provinzielle Posse gegeben. Die Partei bildet ab, woran auch das neu gewählte Parlament krankt: Kaum urbane Politiker, kaum Bewohner grosser Städte, viele Landeier. Auch im Bundesrat gibt es nach dem Ausscheiden von Moritz Leuenberger und jetzt Micheline Calmy-Rey niemanden mehr aus einer wirklich grossen, quirligen Metropole. Nichts gegen Kleinstädte und Dörfer. Aber es gibt auch andere Lebensarten als sie dort Sitte sind, und diese dürften am Parlament und der Regierung nun manchmal glatt vorbeiziehen, ohne erkannt zu werden.
Regenbogen
Am Morgen schlug die Stunde von Hans Altherr. Eigentlich sollte der neu gewählte Ständeratspräsident aus Trogen (AR) nur als Ersatzmann dienen, weil der neu gewählte Nationalratspräsident Hansjörg Walter aus dem Thurgau als das allerletzte Aufgebot seiner SVP höchstselbst für den Bundesrat kandidieren musste (vielleicht sogar wollte). Und siehe da: Der FDP-Ständeherr aus der Ostschweiz, Jurist und Unternehmer, war ein Glücksfall. Er stolperte nie über die Prozedur, leistete sich keine Versprecher, machte seine Sache souverän und unaufgeregt, erlaubte sich sogar ein Spässchen mit der abtretenden Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey nach deren Abschiedsrede, das ihr sichtlich gut gefiel: «Ich weiss nicht, ob Sie lieber Staatsmännin oder Staatsfrau genannt werden wollen, aber Ihre Rede war jedenfalls staatsmännisch.»
Und dann schlug die Stunde der Gaukler, pardon, der Fraktionschefs, und es war interessant, über wie viele Fraktionen das Schweizer Parlament neuerdings verfügt und wie viele von Frauen geleitet werden. Während noch der erste Redner, SVP-Fraktionschef Caspar Baader, ein so düsteres Bild der von allen Seiten gefährdeten Schweiz an die Wand malte, dass einen frieren mochte, erschien dank dem wechselhaften Wetter ein dicker, kräftig bunter Regenbogen über dem Zürichsee. In Bern gab es kein so versöhnliches Zeichen vom Himmel.
Die Liga der Bundesratskandidaten
Eveline Widmer-Schlumpf wurde recht gut wiedergewählt, wie allgemein vorhergesehen. Wäre sie wohl im erlauchten Kreis der Landesregierung verblieben, hätte ihre Wahl nicht – auch – als Strafexpedition gegen die SVP gedient, die sie einst ausgestossen hatte? SVP-Bundesrat Ueli Maurer, der lieber als im Präsidenten-Salon im Kreise von SVP-Wählern und Hinwilern der Dinge harrte, äusserte sich überaus gehässig über die Frau, mit der er nach eigenen Aussagen gut arbeiten kann – das sei kein guter Tag.
Jedenfalls verkündete der SVP-Fraktionschef nach diesem entscheidenden zweiten Wahlgang, von jetzt an gelte für seine Fraktion das Jekami. Jeder folgende und zur Wahl gelangende Sitz werde angegriffen, und zwar durch den Kandidaten Rime - «Herr Walter steht nicht mehr zur Verfügung». Ob der das auch wusste? Er sah mit verzogenem Schnurrbart erst etwas unglücklich aus, dann aber doch total erleichtert: Als Nationalratspräsident wurde der Bauernpräsident ehrenhaft gewählt. Um Bundesrat zu werden, muss allerdings auch ein Schweizer Miliz-Politiker (das sind sie ja offiziell und angeblich fast alle) in einer höheren Liga spielen als der angesehene Thurgauer Bauer, der nur Deutsch kann. Das Personal für wichtige Posten müsste auch die SVP künftig nach stringenteren Grundsätzen auf Herz, Nieren und Fremdsprachen prüfen als nach dem Kriterium: «Wir haben ein Büro geteilt und gemeinsam Bergwanderungen unternommen.»
Brüskierung der einzigen Verbündeten
Überraschend war der Auftritt der FDP-Fraktionspräsidentin Gabi Huber. Sie hielt Baader vor, die SVP brüskiere mit dem Angriff auf die FDP-Bundesräte die einzige Partei, die ihre Verbündete gewesen sei. Zum Schluss verlief aber alles ungefähr so, wie vorhergesehen, ohne Ehrenrunden, bis auf die Ersatzwahl für die SP. Rime scheiterte jedes Mal auf manchmal ziemlich hohem Niveau, und der Unmut der Tessiner offenbarte sich bei der Wahl des Nachfolgers von Calmy-Rey in 10 Stimmen für Marina Carobbio im ersten von zwei Wahlgängen. Doch um fünf vor zwölf siegte Alain Berset. Fünf vor zwölf für die Demokratie? Christoph Blocher erwies sich trotz steinernem Gesichtsausdruck als Verlierer, der wusste, was sich gehört; er gratulierte bereits höflich dem neu gewählten Bundesrat Alain Berset, als der noch in einem der beiden Ständeratssessel des Kantons Fribourg am Rande des Nationalratssaales sass. Der unterlegene Kandidat Rime tat sehr elegant das Gleiche vor der Kamera des Schweizer Fernsehens. Politische Vernunft trotz allem – man wird mit Berset zusammenarbeiten müssen, egal, welches Ministerium er bekommt.
Eine junge, erfolgreiche, blonde Zürcher SVP-Nationalrätin stänkerte allerdings gegen das Haus, das anderswo «Das Hohe Haus» genannt wird: «Nun müssen wir halt über das Volk gehen und nicht mehr über das Parlament.» Wo bleibt denn da der Gedanke des politischen Kompromisses, der ein Land voranbringt? Die diktatorische Diktion hat die Jung-Politikerin offenbar restlos verinnerlicht. Und da war noch nicht einmal ihr Feindbild Widmer-Schlumpf mit hoher Stimmenzahl als turnusgemässe Bundespräsidentin des Jahres 2012 gewählt.
Vom Kandidaten zum Magistraten
Am Ende geschah, was überall auf der Welt immer geschieht, wenn jemand ins höchste Amt gewählt wurde, selbst in etablierten Demokatien: Bundesrat Berset war urplötzlich in höhere Sphären gehoben. Kaum hatte er seine – vorbereitete - Annahme-Rede, wie üblich in allen vier Landessprachen, abgeliefert, gerührt beobachtet von seiner schönen Frau, seiner Mutter und den stolzen Grosseltern auf der Galerie, befand er sich auch schon in der unsichtbaren Glasglocke des Magistraten, die ihn von seinen bisherigen Kollegen trennte, geleitet von Weibeln, geführt in den Salon, in dem seine künftigen Kollegen auf ihn warteten. In ihrem Kreis muss er sich jetzt bewähren.