
Nicht zuletzt Niklaus Meienberg hat ihn der Vergessenheit entrissen. Doch was weiss man heute noch über Ulrich Wille, den General der Schweiz im Ersten Weltkrieg? Jedenfalls ist er eine farbige Persönlichkeit, an die zu erinnern sich sehr lohnt.
Der Montag, 3. August 1914 ist ein besonderer, ein konfliktbeladener Tag in der wechselhaften Geschichte der Eidgenossenschaft. Um 10.30 Uhr tritt die Vereinigte Bundesversammlung zusammen, sie wird sich nach langen, quälenden Verhandlungen und einem überraschenden Verzicht erst am Abend wieder auflösen. Stein des Anstosses: Korpskommandant Ulrich Wille, der General werden soll, den aber die Parlamentarier partout nicht wollen. Sie haben einen anderen Kandidaten: Generalstabschef Theophil Sprecher von Bernegg.
Am Nachmittag sieht es katastrophal aus
Doch warum wählen sie ihn nicht und warum am Ende dann doch? Die Schweiz braucht einen General. In Europa herrscht Krieg, die Truppen sind aufgeboten. Auf den Samstag hat Bundespräsident Arthur Hoffmann, ein St. Galler Freisinniger, Wille nach Bern beordert. Hoffmann, dem der Historiker und Diplomat Paul Widmer eine hochspannende Biographie (Bundesrat Arthur Hoffmann – Aufstieg und Fall, NZZ Libro 2017) gewidmet hat, zieht die Fäden, und er zieht heftig. Zuerst im Bundesrat, den er nur mit Mühe auf seine Linie bringt, dann in der Neutralitätskommission, die sich ihm widersetzt, zuletzt in seiner freisinnigen Fraktion, in der Wille viele Gegner hat.
Noch am Nachmittag sieht es katastrophal aus, und vermutlich bittet Hoffmann dann Wille, er solle mit seinem Rivalen Sprecher reden – der sich zu Hause bereits vorbereitet auf seine Wahl. Das tut Wille. Was die beiden genau bereden, bleibt ein Geheimnis. Warum hat Sprecher verzichtet? Widmer vermutet, Wille habe gedroht, er werde aus der Armee ausscheiden und Sprecher öffentlich bekämpfen – was dem Heissblütigen, mit allen journalistischen Wassern Gewaschenen durchaus zuzutrauen war. Auch habe er wohl an Sprechers Ehrgefühl appelliert. Schon früher hatte Sprecher gesagt, im Kriegsfall solle Wille General werden. Schliesslich, schreibt Widmer, scheint Wille Sprecher «zugesichert zu haben, dass er dem Generalstabschef die operative und planerische Ausrichtung der Armee überlassen werde.» Der Beleg: Wille hat keinen einzigen operativen Einsatzbefehl persönlich unterzeichnet.
Es geht um Deutschland
Die Wende im Parlament bringt dann eine Rede vor der freisinnigen Fraktion, für die Arthur Hoffmann sogar auf einen Tisch steigt. Denn, wie der sonst so Beherrschte sagt, «aussergewöhnliche Umstände erfordern ausserordentliche Mittel». Es seien nicht nur die Leistungen Willes, die den Bundesrat zu seiner dringlichen Empfehlung motivierten, führt Hoffmann aus. Es sei auch die internationale Lage. «Wenn zurzeit gehofft werden darf, dass der Sturm an unserem Lande auch diesmal vorübergehen werde, so hat ein besonderes Verdienst daran auch Herr Oberstkorspkommandant Wille, nicht nur durch seine Lebensarbeit für das Kriegsgenügen und das Ansehen unsere Milizarmee, sondern auch besonders durch die achtunggebietende Art, wie er vor zwei Jahren unsere Truppen bei den Manövern in der Ostschweiz gezeigt hat.» Dieser Besuch des Kaisers – weshalb man dann auch von den «Kaisermanövern» gesprochen hat - habe wesentlich dazu beigetragen, «dass der deutsche Generalstab auf den Schutz der schweizerischen Neutralität durch unsere Armee vertraut».
Das und Sprechers Verzichtserklärung bringt das Parlament zum Umschwenken. Aber die Vorgänge zeigen auch, wie tief gespalten das Land ist – was sich bis 1918, bis zum Generalstreik, noch verstärken wird. Und: Wie umstritten dieser Ulrich Wille ist, geboren 1848 in Hamburg als Spross einer Familie, die aus La Sagne im Neuenburgischen stammt, und gestorben am 31. Januar 1925 in Feldmeilen – heute vor hundert Jahren. Wer also war der Mann, dem (und dessen Familie) der Journalist Niklaus Meienberg 1987 einen Bestseller gewidmet hat unter dem Titel «Die Welt als Wille und Wahn»? Der, wie der Militärhistoriker Rudolf Jaun mit Bedauern feststellt, bis heute keine wissenschaftlich fundierte Biografie bekommen hat?
Immerhin: Jaun selber hat nun, nach «Preussen vor Augen. Das schweizerische Offizierskorps im militärischen und gesellschaftlichen Wandel des Fin de siècle» (Chronos, 1999) und seiner «Geschichte der Schweizer Armee» (Orell Füssli, 2019), General Wille eine kleine biographische Würdigung samt militärpolitischer Einordnung zuteil werden lassen – in der er auch auf seinen Aufsatz «General Wille unter Shitstorm» über «Niklaus Meienbergs 'Wille und Wahn' in der Medien- und Fachöffentlichkeit der 1980er-Jahre» von 2014 verweist. Meienberg hatte Briefe Willes an seine Gattin zu Gesicht bekommen, die es ihm ermöglicht hatten, ganz nah an Wille heranzukommen. Das hatte ein enormes Medienecho ausgelöst und die Geschichtswissenschaft auf dem falschen Fuss erwischt. Dabei hatte Meienberg, wie Jaun schreibt, «'reale Fakten' und Fiktion montiert, um seine Botschaft auf den Punkt zu bringen». Fazit: Für Meienberg sei Wille als gewählter General ein kranker Mann, «dem nichts gelingen kann und der deshalb auch keine differenzierte Betrachtungsweise verdient». Militärisches habe ihn nicht interessiert, «dafür umso mehr die Essensgewohnheiten des Generals».
Ziel: Bedingungslose Pflichterfüllung
Doch das Differenzieren lohnt sich. Als Oberinstruktor und Truppenführer sei Wille «gegen die Vorstellung einer Armee von mitdenkenden (und gerade deshalb disziplinierten) Staatsbürgern angetreten, wie sie die 'Nationale Richtung' in der Militärorganisation von 1874 vertreten hatte», fasst Thomas Maissen in seiner «Geschichte der Schweiz» Willes Positionierung in Worte. «Stattdessen wollte er als Hauptvertreter der 'Neuen Richtung' die unter schweizerischen Verhältnissen unumgängliche Milizarmee nach dem preussischen Vorbild zu bedingungsloser Pflichterfüllung und dadurch zu voller Kriegstauglichkeit erziehen.» Wobei Drill nicht Selbstzweck ist, sondern, wie Wille selber schreibt, «die Erziehung des Mannes zum Manne».
Seine Ziele verfolgte Wille mit einer umfangreichen publizistischen Tätigkeit. So wurde er zu einer weitherum bekannten, aber auch hoch umstrittenen Figur. Und weil die Romandie stark nach Frankreich, die Deutschschweiz aber in Richtung Deutschland schaute, musste das Aufeinandertreffen beider Nachbarländer im Weltkrieg in der Schweiz zu enormen inneren Spannungen führen. Im Juli 1915 deutete Wille gegenüber dem Bundesrat an, die Schweiz könnte doch aufseiten der Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn in den Krieg eintreten. Anfang 1916 platzte eine Affäre um zwei Generalstabsobersten, die über längere Zeit geheime Informationen an die Mittelmächte weitergeleitet hatten und die nun mit sehr geringen Disziplinarstrafen davonkamen.
Sehr viel härter bestraft wurden dagegen die einfachen Bürger, das zeigen jene Begnadigungsgesuche, mit denen Wille von Kriegsbeginn an überschwemmt wird, und denen Lea Moliterni Eberle eine aufschlussreiche Studie gewidmet hat («Lassen Sie mein Leben nicht verloren gehen!» – Begnadigungsgesuche an General Wille im Ersten Weltkrieg, NZZ Libro, 2019). Beinahe täglich wenden sich Menschen an ihn, die in die Fänge einer masslosen Militärjustiz geraten sind. Und oft reagiert der als streng verschriene, mit enormer Machtfülle ausgestattete Wille mit grosser Milde. So etwa im Fall des Thurgauer Landwirts Johann Giezendanner, der aus finanzieller Not ein ihm gehörendes unbewohntes Haus anzündet, um die Versicherungssumme zu kassieren, und dabei dummerweise seine Uniform trägt. Wegen Brandstiftung zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, wendet sich zunächst sein Anwalt an den General, später auch noch die Ehefrau, und zuletzt der Verurteilte selbst, der an Willes «edles Soldatenherz» appelliert. Mit Erfolg.
Zwei Drucker und der Landesstreik
Bemerkenswert ist auch der Fall des Druckerehepaars Julius und Rosa Heuberger, die jene antimilitaristischen Plakate gedruckt hatten, die 1917 in Zürich zu Krawallen geführt hatten. Ein Besuch von Rosa Heuberger brachte den General dazu, den Mann teilweise zu begnadigen. Doch die Erwartung künftigen Wohlverhaltens erfüllte sich nicht: Ein halbes Jahr darauf, zum Landesstreik, kamen die Plakate erneut aus der Druckerei Heuberger.
In diesem Landesstreik hat Ulrich Wille seinen letzten grossen Auftritt. Und ist überzeugt, mit dem imponierenden Auftreten seiner Truppen das Abgleiten in eine revolutionäre Bewegung verhindert zu haben. So konnte er sich, wie Rudolf Jaun schreibt, «als Retter des liberaldemokratischen Staates inszenieren», was ihm «viel Verehrung einbrachte, aber von linker Seite auch Verachtung». Ihm sei «mit langer Wirkung bis heute» vorgeworfen worden, «mit seiner Doktrin der Vorbeugung durch Gewaltandrohung den Generalstreik absichtlich provoziert zu haben. Evident ist jedoch gerade das Gegenteil.»
Rudolf Jaun: General Wille. Ein bekämpfter und verehrter Schweizer Offizier, Swiss Edition, Weinfelden 2024