Präsident Selenskyj wirkte schwer enttäuscht, als er äusserte, die Ukraine habe eingesehen, dass ein Nato-Beitritt nun vom Tisch sei. Die Frustration ist aus seiner Perspektive, unter russischem Bombenhagel, nachvollziehbar. Aber ist der Vorwurf auch gerecht?
Die Nato eröffnete dem Land, schon seit 2014, zwar vage eine Perspektive für die Evaluierung allfälliger Beitrittsverhandlungen, mehr war es jedoch nicht. Zumindest nicht offiziell – was hinter den Kulissen allenfalls noch beredet wurde, wissen wir nicht. Manches deutet darauf hin, dass die ukrainische Seite, noch unter der Präsidentschaft Poroschenkos, mehr aus Worten insbesondere US-amerikanischer Politiker herausgelesen hat, als was wohl wirklich gemeint (oder präsidial abgesegnet) war.
Undurchsichtiger 15-Punkte-Plan
Realistisch war ein zeitnaher Beitritt der Ukraine zum Verteidigungsbündnis aber schon deshalb nicht, weil das Land sich (ebenfalls seit 2014) im Konflikt mit den von Russland unterstützten Separatisten im Donbass befand – und weil es schon immer Doktrin der Nato war, kein Land aufzunehmen, das Krieg (wenn auch nur einen geografisch begrenzten Krieg) mit einem anderen Land führt. Aus diesem Grund stagnierten ja auch die Gespräche mit Georgien, das seit 2008 im (derzeit eingefrorenen) Konflikt mit Russland um die Region Süd-Ossetien steht.
Der Grund für die Haltung der Nato ist klar: Die ganze Allianz könnte in die Lage geraten, dem betreffenden Mitglied militärischen Beistand leisten zu müssen. Und so könnte, im schlimmsten Fall, selbst aus einem Scharmützel um, beispielsweise, Süd-Ossetien, ein Kontinentalkrieg werden.
Ob das Stichwort Nato in dem bis jetzt nur in Teilen publik gemachten so genannten 15-Punkte-Plan für weitere Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland irgendwo aufscheint, ist nicht bekannt. Es entspräche der Logik, dass die ukrainische Seite es vermeiden wollte, das Thema schriftlich zu erwähnen. Schliesslich hat das Parlament den Nato-Beitritt in der Verfassung verankert (in Übereinstimmung mit einem international, übrigens auch von Russland, anerkannten Recht, dass jeder unabhängige Staat seine Bündnispartner eigenständig wählen darf) – also müsste erst ein Konsens darüber erreicht werden, dieses Ziel wieder aus der Verfassung zu entfernen.
Was bedeutet Neutralität für die Ukraine?
Erwähnt wird im erwähnten Plan jedoch Neutralität – nur: Was versteht die eine, was die andere Seite darunter? Die russische Führung scheint darunter einen Staat ohne Armee, also einen völlig wehrlosen Nachbarn, zu verstehen. Die Regierung der Ukraine respektive die von Präsident Selenskyj ernannten Verhandler aber machten bereits klar, dass «Neutralität» für sie allenfalls das Eingebettet-Sein in ein internationales Sicherheitsnetz heisst. Nur: Wer könnte da Sicherheit gewährleisten?
Niemandem fällt etwas anderes ein als zumindest einzelnen Mitgliedstaaten der Nato, also geografische Nachbarn der Ukraine. Womit man bereits wieder bei der Bündnispflicht der Nato angelangt wäre. Das wird Putins Russland gewiss nie und nimmer akzeptieren – und die Nato auch nicht. Dann geriete sie auf Umwegen doch noch in Verpflichtungen, die sie jetzt, mit ihrem Nein zu Selenskyjs Ruf nach Einrichtung einer Flugverbotszone, vermeiden will.
Echt gespenstisch wirkt bis heute, dass bei den bilateralen Gesprächen wohl die Ukrainer Bereitschaft zu gewissen Konzessionen zeigen, die Russen jedoch in keiner Art und Weise. Putin wiederholt immer wieder, dass er darauf beharre, all seine Ziele im Krieg (der gemäss offizieller russischer Sprachregelung immer noch nicht so heisst) zu erreichen.
Selenkyjs Team bleibt am Verhandlungstisch
Vielleicht herrscht an der Spitze der Kreml-Hierarchie tatsächlich noch die Meinung vor, die eigenen Kräfte seien in der Ukraine «auf Kurs». Und über kurz oder lang werde das, was Putin vor gut drei Wochen noch eine Marionetten-Regierung nannte, wenn nicht in der brutalen Realität der Kämpfe um die Städte, dann doch bald am Verhandlungstisch in sich zerfallen.
Je mehr man sich in Details dieser (einseitigen) Verhandlungen hineindenkt, desto härter fällt der 15-Punkte-Plan auf den Boden harter Tatsachen: Neutralität unter der russischen Bedrohung ist nicht realistisch – Garantien für die Sicherheit der Ukraine könnten nur Nato-Staaten bieten. Und wenn darüber keine Annäherung der Standpunkte erreicht wird, bleibt vom ganzen Plan nur ein Scherbenhaufen.
Gut, ja bewundernswert, dass Selenskyjs Team sich dennoch weiterhin mit den von Putin entsandten Beauftragten an einen Tisch setzen will. Diese Bereitschaft soll wohl der eigenen, unter russischen Attacken leidenden Bevölkerung zeigen: Wir unternehmen alles, um weiteres Blutvergiessen zu verhindern. Auch wenn die Erfolgsaussichten sehr gering sind.