Ansätze zu einer Verhandlungslösung im Ukraine-Krieg sind zurzeit nicht erkennbar. Aber viele Beobachter sind sich einig, dass es irgendwann zu Verhandlungen kommen wird, wenn keine Seite ihre Ziele erreichen kann. Die Geschichte der deutschen Nachkriegsteilung und späteren Wiedervereinigung Deutschlands könnte eine Analogie für eine – temporäre – Kompromisslösung sein. Ohne überzeugende Sicherheitsgarantien für die überfallene Ukraine ist das kaum denkbar.
Ein ukrainischer Bekannter in Kiew, mit dem ich seit einiger Zeit per E-Mail korrespondiere, schrieb dieser Tage, vorrangig sei für ihn, dass der seit anderthalb Jahren tobende Angriffs- und Verteidigungskrieg in seinem Land so bald als möglich beendet werden kann. Er glaube nicht an die «Möglichkeit eines Sieges» der einen oder anderen Seite. Er stimme mit denen überein, die ihre Hoffnungen auf das «koreanische Szenarium» setzen.
«Koreanisches Szenarium» und deutsche Nachkriegsteilung
Mein Bekannter nimmt dabei Bezug auf den Koreakrieg Anfang der 1950er Jahre. Es ging die politische Machtordnung im früheren koreanischen Kaiserreich, das 1910 von Japan annektiert und nach dem Zweiten Weltkrieg in eine sowjetische und eine amerikanisch besetzte Zone geteilt war. Nach äusserst blutigen Kämpfen zwischen den beiden Lagern, die schliesslich in einen verlustreichen Stellungskrieg mündeten, wurde 1953 nach langen Verhandlungen ein Waffenstillstandsabkommen geschlossen. Dieser Zustand mit schwer bewachten Grenzen dauert bis heute an. Nordkorea entwickelte sich unter chinesischer Protektion zur totalitären Diktatur der Kim-Dynastie. In Südkorea entstand unter einem amerikanischen Sicherheitsschirm aus einer De-facto-Militärdiktatur im Lauf der Jahrzehnte eine moderne, hochtechnisierte Demokratie.
Von einem «koreanischen Szenarium» als möglicher Perspektive für ein Ende des Ukraine-Krieges ist zwar hie und da die Rede. Inspirierender aber und hoffnungsvoller erscheint der Hinweis auf das «Modell» der deutschen Nachkriegsteilung, das neuerdings von einigen Kommentatoren in die Diskussion eingebracht worden ist. Denn im Unterschied zum potentiell weiterhin gefährdeten koreanischen Waffenstillstand ist die deutsche Teilung, die jahrzehntelang ein spannungsreiches europäisches Konfliktthema war, mit dem Fall der Berliner Mauer schliesslich friedlich überwunden und verbindlich gelöst worden.
Nicht ohne westliche Sicherheitsgarantien
Zumindest indirekt scheint der deutsch-iranische Publizist Navid Kermani in einem umsichtigen Artikel zum Ukrainekrieg in der Wochenzeitung «Die Zeit» auf das Beispiel der deutschen Teilung anzuspielen. Er argumentiert, ein «Einfrieren des Krieges», also eine vorläufige Waffenruhe, sei wohl zurzeit das plausibelste Szenario, um das unerträgliche Töten und Zerstören auf diesem weitläufigen Schlachtfeld einzudämmen. Der Autor fügt allerdings – im Unterschied zu anderen, naiveren Vorschlägen in diese Richtung – hinzu, dass bei einer solchen Waffenruhe die Ukraine am Anspruch auf ihre völkerrechtlich festgeschriebene territoriale Integrität, inklusive die gegenwärtig russisch besetzten Gebiete, festhalten müsste.
Ausserdem, meint Kermani, hätte eine Waffenruhe mit «belastbaren Sicherheitsgarantien des Westens für den freien Teil der Ukraine» einherzugehen. Die sicherste Garantie wäre die Aufnahme der Ukraine in die Nato und die EU. Und als unmittelbare Sicherheitsmassnahmen für das Zustandekommen eines Waffenstillstands sei die Stationierung britischer und französischer Soldaten in Kiew denkbar, falls Russlands Armee in Donezk und in Sewastopol präsent bleibe.
Dass ohne solche handfesten, militärisch unmittelbar greifbaren Garantien ein Stillhalteabkommen mit Russland im Ukrainekrieg weder für Kiew noch seine Bündnispartner glaubwürdig sein könnte, liegt auf der Hand. Schliesslich hat das Putin-Regime seit der Annexion der Krim vor acht Jahren sämtliche zuvor von Moskau unterschriebenen Vereinbarungen zur Unverletzlichkeit der ukrainischen Grenzen flagrant gebrochen.
Keine Kompromiss-Signale in Moskau und Kiew
Die Osteuropa-Kennerin Sonja Zekri hat in der «Süddeutschen Zeitung» in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass auch Westdeutschland schon 1955 in die Nato (und bald darauf die DDR in den Warschau-Pakt) aufgenommen wurde, während die Lösung der deutschen Teilung noch völlig offenblieb. Man kann im historischen Rückblick sogar argumentieren, dass ohne diese bündnismässige Einbindung der BRD und der DDR sich ein machtmässiges Gleichgewicht und damit ein prekärer Friede während des Kalten Krieges in Europa nicht eingependelt hätte. Diese Friedensperiode und die zeitweise möglich gewordene Détente zwischen den Machtblöcken wiederum schaffte die Ansätze für die spätere innere Auflösung des Sowjetimperiums und damit für die unerwartete deutsche Wiedervereinigung.
Auch Kermani räumt in seinen Überlegungen zu einem «Einfrieren des Krieges» ein, dass man dagegen zahlreiche Einwände vorbringen könnte. Der wichtigste sei zurzeit «die fehlende Bereitschaft der Konfliktparteien» zu einem derartigen Ansatz. Tatsächlich hat Putin bisher nie halbwegs glaubwürdig erkennen lassen, dass er bereit wäre, den Angriffskrieg gegen das Nachbarland auf dem jetzigen Stand einzustellen. Dies kommt laut Moskaus bisheriger Sprachregelung nur in Frage, wenn Kiew die Forderungen nach einem endgültigen Verzicht auf die Nato-Mitgliedschaft, auf die Krim und die übrigen annektierten Territorien akzeptieren würde.
Dass die Selenskyj-Regierung eine solche De-facto-Kapitulation, die praktisch auf eine Belohnung Putins für seinen Angriffskrieg hinausliefe, weit von sich weist, versteht sich von selbst. Zugeständnisse an Moskau würden gegenwärtig in der ukrainischen Bevölkerung auf heftigen Widerstand stossen. Laut einer in der «Süddeutschen Zeitung» zitierten Umfrage lehnen mehr als 90 Prozent jede Gebietsabtretung an den Aggressor ab.
Langzeitperspektive erst nach Putins Abgang
Dennoch ist es legitim, die Geschichte der deutschen Wiedervereinigung als Beispiel für die langfristig erfolgreiche Lösung eines gefährlichen politischen und territorialen Konflikts auch im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg im Auge zu behalten. Sie könnte zumindest auf westlicher Seite dazu anregen, die Möglichkeiten einer «Kriegseinfrierung», verbunden mit konkreten Sicherheitsgarantien, detaillierter zu prüfen und mit Kiew entsprechende Gespräche zu führen.
Gut möglich, dass solche Gespräche in diskreter Form bereits im Gange sind. Das deutsche Wiedervereinigungs-Szenario inklusive Nato-Garantie für die nicht besetzte Ukraine böte Kiew immerhin die – wenn auch ungewisse – Perspektive einer späteren friedlichen Rückkehr der von Moskau annektierten Gebiete. Vorstellbar wird eine solche Langzeitperspektive allerdings erst nach Abgang des skrupellosen Kriegstreibers Putin von der Bühne.
Serhij Zhadans kritische Fragen
Und natürlich können eventuelle Bemühungen von westlicher Seite für eine «Kriegseinfrierung» nicht ohne die Einbeziehung der ukrainischen Regierung in die Wege geleitet werden. Serhij Zhadan, der gegenwärtig bekannteste ukrainische Schriftsteller, hat diese Woche in der «Zeit» in einer Antwort auf die Überlegungen Kermanis deutlich gemacht, dass in seinem vom Krieg verwüsteten Land Befürchtungen kursieren, westliche Bündnispartner könnten über den Kopf Kiews hinweg mit dem Kreml ein Ende der Kampfhandlungen anbahnen. Nicht ohne bitteren Unterton schreibt der in Charkiw lebende Autor, auch ausserhalb der Ukraine habe man hoffentlich begriffen, dass man es beim russischen Überfall nicht mit einer «militärischen Spezialoperation» zu tun habe. «Wir haben es mit Völkermord zu tun.» Putin gehe es «um die Zerstörung der Ukraine als solcher».
Deshalb müsse, insistiert Zhadan, ehe man eventuelle Kompromisse mit Moskau anvisiere, präzise geklärt sein: «Was geschieht, wenn das Feuer eingestellt wird? Was wird mit den Ukrainern? Mit denen, die sich in den besetzten Gebieten befinden und den Mühlen des russischen Repressionsapparates ausgeliefert sind?»
Die kritischen Fragen des kämpferischen ukrainischen Schriftstellers sind absolut berechtigt. Aber auch wenn man sie berücksichtigt, muss es möglich sein, sich detailliertere Gedanken für eine «Kriegseinfrierung» und deren langfristige Perspektiven zu machen. Das Beispiel der deutschen Wiedervereinigung verdient es, in solche Überlegungen einbezogen zu werden. Doch ohne verbindliche Nato-Garantien zumindest für die nicht besetzte Ukraine können von diesem «Modell» keine überzeugenden Inspirationen ausgehen.