Die Wiederwahl von Frank-Walter Steinmeier als Bundespräsident entspricht ganz der Art, wie er dieses Amt bislang ausfüllte: mit Würde und Selbstverständlichkeit. Fast möchte man glauben, es gebe Sonntage der Politik.
Es waren drei Gegenkandidaten, einer von der AfD, einer von der Linken und eine Kandidatin der «Freien Wähler» aufgestellt worden. Das CDU-Mitglied Max Otte, von der AfD nominiert, hatte schon im Voraus für erheblichen Krach, vor allem in der CDU, gesorgt. Der Sozialmediziner Gerhard Trabert, der für die Linke antrat, ist ganz sicher ein honoriger Mann, aber ebenso wenig ein Politiker wie die Physikerin Stefanie Gebauer auf dem Ticket der «Freien Wähler».
Gewagter Schritt
Das Amt des Bundespräsidenten ist politisch und unpolitisch zugleich. Natürlich soll sich der Bundespräsident nicht in Parteipolitik einmischen. Aber die Frage, wer jeweils aufgestellt wird, hat erheblich mit Parteien zu tun. Als Gustav Heinemann 1969 zum Bundespräsidenten gewählt wurde, sprachen politische Beobachter davon, dass dies «ein Stück Machtwechsel» sei. Bald darauf bildeten SPD und FDP die erste Regierung der Bundesrepublik Deutschland ohne Beteiligung der CDU/CSU.
Steinmeiers Wiederwahl in geradezu überparteilichem Konsens verdeckt die Tatsache, dass der gewiefte SPD-Politiker vor ein paar Wochen einen gewagten Schritt getan hat. Er erklärte ungefragt und von sich aus, dass er gerne für eine zweite Amtszeit antreten würde. Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht klar, wie die Bundestagswahlen ausgehen würden. So war die künftige Zusammensetzung der «Bundesversammlung», die die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag spiegelt und speziell zur Wahl des Bundespräsidenten zusammengestellt wird, noch offen.
Dem kam Steinmeier zuvor. Dieser Schritt war ebenso gewagt wie klug. Und er machte klar, dass die Würde des Amtes über parteipolitisches Geplänkel hinausragt. Aber das hätte auch gründlich schief gehen können. Denn die Grünen, von denen man zu diesem Zeitpunkt nur wusste, dass sie bei den Bundestagswahlen zulegen würden, liessen sich die Entscheidung vorerst offen. Die CDU war sowieso unberechenbar und die SPD war ein bisschen dafür und ein bisschen dagegen, jedenfalls zu dem Zeitpunkt keine Partei, die ihrem Kandidaten von 2017 erneut kräftig Rückenwind gegeben hätte.
Der richtige Ton
Vielleicht ist es diese Mischung aus politischer Klugheit, taktischem Geschick und Authentizität, die Frank-Walter Steinmeier ein hohes Mass an Beliebtheit, national wie international, eintragen. Da steht kein blauäugiger Idealist, aber auch kein kaltschnäuzig taktierender Politiker. Da ist einer, der weiss, dass das Spülwasser der Politik alles andere als sauber ist, die Leute sich aber an blankem Geschirr freuen. In seinem Auftreten und seinen Reden liefert er es.
Und die fünf Jahre seiner ersten Amtszeit haben gezeigt, dass er jeweils den richtige Ton trifft. Unvergessen sein Auftritt im toskanischen Fivizzano im August 2019, als er, zum Teil auf Italienisch, um Verzeihung für die Gräueltaten Deutscher während des Zweiten Weltkriegs bat. Und in Yad Vashem war er der erste deutsche Bundespräsident, der dort eine Rede hielt. Das war im Januar 2020.
Salbungsvoll und scharf
In seiner ersten Amtszeit soll Steinmeier um die 600 Reden gehalten haben. Manche Reden gerieten ihm zu pastoral und salbungsvoll. Da war sein Vorgänger Joachim Gauck oft wohltuend nüchterner. Aber das Salbungsvolle hat Steinmeier nicht daran gehindert, dort, wo es in seinen Augen notwendig war, seine Autorität als Bundespräsident in beissender Schärfe zur Geltung zu bringen. So hat er sich unmissverständlich klar zur Notwendigkeit der Impfungen im Zusammenhang mit Corona geäussert.
Aber welche Tonlage passt am besten zu Steinmeier? Er kann auf eine lange politische Karriere zurückblicken. Er ist, was heute leicht vergessen wird, ein Mann aus Schröders engstem Umkreis. Ihm diente er schon in Hannover, ihm hielt er den Rücken frei, mit ihm ging er nach Berlin und stieg zum Parlamentarischen Staatssekretär und schliesslich zum Aussenminister auf. Wenn er sich äusserte, merkte man deutlich, wie vorsichtig er war und wie stark er sich grundsätzlich einer diplomatischen Sprache und Zurückhaltung bediente. Dabei wirkte er nie falsch, aber manchmal – wie in der Affäre um Murat Kurnaz – hätte man sich doch etwas weniger Taktieren gewünscht.
Wunsch nach mehr Biss
Einmal allerdings hat sich Steinmeier völlig vergaloppiert. Das war 2009, als er der Versuchung nicht widerstehen konnte, für die SPD als Kanzlerkandidat anzutreten. Aus heutiger Sicht war sein Wahlergebnis für die SPD mit 23 Prozent gar nicht einmal so schlecht, aber seine Auftritte gerieten hart an die Peinlichkeitsgrenze, wenn nicht weit darüber hinaus. Denn er glaubte, wie sein Mentor Schröder polternd und vor allem laut auftreten zu müssen. Dabei wirkte er wie ein Laienschauspieler im falschen Stück. Diese Auftritte sind heute ebenso vergessen wie seine etwas undurchsichtige Rolle, die er im Zusammenhang mit Nord Stream 2 spielte. Es gehört zum Phänomen Steinmeier, dass ihn der Dunstkreis Schröders politisch nicht belastet.
Beobachter wünschen sich, dass Frank-Walter Steinmeier in seiner zweiten Amtszeit noch etwas mehr Biss zeigt als in seiner ersten. Der letzte Bundespräsident, der vor ihm zwei Amtszeiten bekleidete, war Richard von Weizsäcker (1984–1994). Bis heute ist Weizsäcker mit seiner wegweisenden Rede zum 8. Mai 1945 in guter Erinnerung. Beide Bundespräsidenten haben gemeinsam, dass sie über die Sphäre des rein Politischen hinausragen.