Franco Fiorito war in der Region Lazio, in der auch Rom liegt, Schatzmeister von Berlusconis PdL-Partei (Popolo della Libertà). Mehrere Millionen Steuergelder soll er aus der Fraktionskasse entwendet haben. Mit Freunden feierte er opulente Feste. Da gab es Kaviar, Austern und Champagner. Vor römischer Kulisse in der Filmstadt Cinecittà traten Vestalinnen als halbnackte Tänzerinnen auf.
Für Kurz-Ferien in Sardinien zahlte er 29‘000 Euro. Mit der Bancomat-Karte seiner Partei befriedigte er „seine Passion für schöne Sachen“ („La Repubblica“). Für 35‘000 Euro kaufte er mit öffentlichen Geldern einen Wrangler-Jeep, „um durch das eingeschneite Rom fahren zu können“. Dort lagen im Februar drei Zentimeter Schnee. In Menton an der Côte d’Azur und in Teneriffa richtete er luxuriöse Anwesen ein. In Rom besitzt er vier Residenzen. Beweise für seine Veruntreuungen hat er vor seiner Verhaftung geschreddert.
Nur der Eisberg
14 Millionen Euro öffentlicher Gelder sind verschwunden. Fiorito ist sicher nicht der Einzige, der davon profitierte. Renata Polverini, die PdL-Parlamentspräsidentin der Region Lazio, empört sich. Sie will von allem nichts gewusst haben, obwohl sie an den Fiorito-Feiern gesehen wurde. Letzte Woche trat sie zurück.
Das Leben des Franco Fiorito ist nur der Eisberg einer neuen Skandal-Serie. Jüngstes Beispiel: Sechs Politikerinnen und Politiker rechneten zügellos Spesen für „politische Missionen“ ab. Dafür waren sie „gezwungen“, lange Reisen zu unternehmen – ausgerechnet im Ferienmonat August. Kurz: Sie liessen sich die Ferien vom Steuerzahler bezahlen.
Und in Mailand wird noch immer gegen Roberto Formigoni, den Präsidenten der Region Lombardei, ermittelt. Er, Mitglied der Berlusconi-Partei, wird beschuldigt, riesige Summen veruntreut zu haben. Auch Umberto Bossi und seine Lega Nord stecken tief im Korruptionssumpf.
Die Politiker haben jedes Vertrauen verloren
Fast wöchentlich kommen neue Skandale ans Tageslicht. Und das ausgerechnet zu einer Zeit, in der Ministerpräsident Mario Monti versucht, sein Land in ein besseres Licht zu rücken und internationales Vertrauen zurückzugewinnen.
In Italien selbst haben die Politiker schon längst jedes Vertrauen der Bevölkerung verloren. Spricht man mit Italienern heute über Politik, ist eine tiefe Abscheu spürbar. Viele Italiener können sich wegen der neuen Steuern nur mit Mühe über Wasser halten - und da verprassen einige Angeber ihre Gelder und leben in Saus und Braus.
Laut einer im April veröffentlichten Umfrage der bürgerlichen Mailänder Zeitung „Corriere della sera“ haben nur zwei Prozent der Italiener Vertrauen in ihre Politiker und deren Parteien. Ein historischer Tiefstwert. Eine neue Umfrage besagt, dass nur die Hälfte der Wahlberechtigten an den kommenden Wahlen teilnehmen will.
Berlusconis Partei bröckelt
Die Skandale haben fast alle Parteien erreicht, allerdings die Linke weit weniger als die übrigen. Am meisten gesündigt haben die Politiker von Berlusconis Popolo della Libertà („Volk der Freiheit“) und der Lega Nord.
Die Ungeheuerlichkeiten beschleunigen das Bröckeln des PdL und der Lega. Eine neue Meinungsumfrage gibt der Berlusconi-Partei noch 20 Prozent und der Lega 5,3 Prozent. Vor allem das „Volk der Freiheit“ ist desorientiert und droht zu zerbrechen. Einflussreiche Politiker sind dabei, das Schiff zu verlassen. Nicht nur die Abgeordneten der früheren Alleanza Nazionale (AN), die sich der Berlusconi-Partei angeschlossen hatten, blasen zum Aufstand.
All das hat Einfluss auf die nähere politische Zukunft des Landes. Denn im kommenden Frühjahr stehen Wahlen an. Dann läuft die Amtszeit von Mario Monti, dem sogenannten Notstands-Ministerpräsidenten aus. Monti, der keiner Partei angehört, war eingesetzt worden, weil sich die Parteien nicht auf einen konstruktiven Kurs einigen konnten. Sie brauchten eine Verschnaufpause – und vor allem brauchten sie jemanden, der die Drecksarbeit leistet, die sie selbst nicht leisten wollten und konnten.
Montis Dementi hat wenig Bedeutung
Im April des kommenden Jahres sollen die Politiker zurück an die Macht. Doch es sieht nicht danach aus, dass die Wahlen stabile Verhältnisse bringen würden – Verhältnisse, die Italien unbedingt bräuchte. Monti hat zwar erste minime Erfolge erzielt, doch die reichen bei weitem nicht.
Die Wirtschaft und viele Zentrumspolitiker befürchten ein neues Chaos. Deshalb möchten sie, dass Mario Monti eine zweite Amtszeit lang regiert. Monti hat unterschiedliche Signale ausgesendet. Letzte Woche sagte er , im Frühjahr „werde ich das Regieren den andern überlassen“. Also: kein Monti bis. Doch solche Erklärungen bedeuten in der Regel wenig.
Monti kann sich nicht offen um das Amt bewerben. Sonst würde er sich dem Vorwurf aussetzen, er verachte das demokratische System und die politischen Parteien. Auf sie ist er auch als Notstandspremier angewiesen. Monti kann also nicht von sich aus kandidieren, er muss gebeten werden. Politische Beobachter in Rom halten es durchaus für möglich, dass Monti – trotz heutigen Dementis – eine zweite Amtszeit lang regieren wird.
Unterstützung erhält er von der Industrie, dem Ferrari-Chef Luca Cordero di Montezemolo, Fiat-Chef Sergio Marchionne, der Zentrumspartei UDC von Pier Ferdinando Casini, dem christlichen Gewerkschaftsbund CISL sowie den „Finianern“, den Anhängern von Gianfranco Fini, des früheren Chefs der Alleanza Nazionale. Doch selbst bei der Linken stösst eine zweite Amtszeit von Monti da und dort auf Sympathien.
Römische Spekulationen
Und das „Volk der Freiheit“? Berlusconi befindet sich in einer Zwickmühle. Unbestritten ist, dass er erneut Ministerpräsident werden möchte. Doch die Meinungsumfragen verheissen ihm und seiner bröckelnden Partei wenig Gutes. Jetzt will er eine neue Partei gründen, die er vielleicht „Grande Italia“ nennt. Doch genügt das? Berlusconi zögert plötzlich. Lieber nicht kandidieren, als eine Niederlage einfahren. Der 76-Jährige will ja nicht seine lange politische Karriere mit einer weiteren Ohrfeige beenden.
So gibt es innerhalb von Berlusconis Partei Kräfte, die sagen: geben wir Monti ein zweites Mandat und nehmen uns dann die Zeit, eine neue Mitte-rechts-Formation auf die Beine zu stellen – ohne Berlusconi. Angelino Alfano, der PdL-Kronprinz, spricht sich offen gegen eine zweite Amtszeit von Monti aus.
Doch Journalisten in Rom glauben zu wissen, dass Alfano im Geheimen für Monti ist. Der junge Senkrechtstarter war ausersehen worden, jetzt in die Fussstapfen von Berlusconi zu treten. Doch der Chef besann sich plötzlich anders und stand Alfano wieder vor der Sonne. Käme jetzt Monti nochmals, hätte Alfano Berlusconi wohl los. Denn mit bald 78 Jahren wird der Cavaliere 2014 wohl kaum nochmals kandidieren. Doch all das sind römische Spekulationen.
Die Linke gegen Monti
Monti hat viele Gegner. Die Lega Nord spuckt auf ihn. Ebenso Beppe Grillo vom „Movimento 5 Stelle“. Auch der grösste Gewerkschaftsbund und die linkspopulistische Partei „Italien der Werte“ (Idv) sind gegen ihn. Doch die einflussreichsten Gegner von Monti sind die traditionellen Linken. Sie haben ihn lange unterstützt. Aber jetzt hat der linke Partito Democratico (DC) von Pier Luigi Bersani genug: Er hat Monti einen harten Kampf angesagt. Die DC geisselt seine Sparpolitik, die vor allem auf Kosten der Mittel- und Unterschicht gehe.
Die Position der Linken ist verständlich. Denn in Meinungsumfragen ist heute der Partito Democratico mit 28 bis 30 Prozent die mit Abstand stärkste Partei des Landes. Und jetzt, so sagen die Partei-Oberen, will man uns daran hindern zu regieren? Damit würde man den Volkswillen missachten.
Doch der PD allein könnte keine Regierung auf Dauer bilden. Und mögliche Koalitionspartner, wie die Idv, sind sprunghaft und wenig verlässlich. Zudem ist die Linke nach wie vor zerstritten. Sie bereitet jetzt Primärwahlen vor. Dabei soll bestimmt werden, ob der bisherige Parteichef Bersani die Nummer eins bleibt oder ob er vor den Wahlen gestürzt werden soll. Vier Kandidaten machen dem intelligenten, aber wenig charismatischen Bersani den Posten streitig. Unter ihnen befindet sich der einflussreiche junge Florentiner Bürgermeister Matteo Renzi. Der innerparteiliche Kampf hat schon tiefe Wunden aufgerissen.
“Besser im Gefängnis als in meiner Partei“
Alles ist also offen. Wird Monti erneut kandidieren? Wird Berlusconi kandidieren? Bricht seine Partei auseinander? Würde Monti im Parlament überhaupt die Mehrheit erhalten, um erneut regieren zu können? Wenn die Linke die Wahlen gewinnt, wird sie Koalitionspartner finden, um regieren zu können?
Also, wie immer in Italien: Unklarheit, Unsicherheit, Spekulationen, Improvisationen, „Polemica“, Dementis, alle gegen alle. Prognosen zu stellen, wagt kaum mehr jemand. Immer ist in Italien übermorgen alles anders, als es morgen sein wird. All das verheisst nichts Gutes.
Einem kann das alles egal sein. Franco Fiorito befindet sich – Rosenkranz-betend - zurzeit in einer acht Quadratmeter grossen Zelle im Gefängnis Regina Coeli in Rom. Er beteuert seine Unschuld. Er sagt: „Besser im Gefängnis als in meiner Partei“.