Samstagmorgen. Auf dem Teller das vierte Stück Brot, Demeter mit Demeter Himbeergomfi. Aus der Teetasse steigt der Duft der Nilgiris, der blauen Berge Indiens. Dazu spielen Pink Floyd «Echoes», jenen Song, den man an meiner Abdankung hören wird. Die Zeitung liegt bereit. «Ti amo!» rufe ich Noëlle zu. Sie hat soeben das Haus verlassen und geht durch den Garten zur Arbeit, dreht sich noch einmal und winkt. Nun ein ganzer Tag für mich. Endlos Zeit. Zeit. Zeit.
Dezember 2011
Ich bin der glücklichste Mensch, Tag für Tag, Sekunde für Sekunde – ausgenommen jeden Dienstag, wenn die Kontrolle im Spital ansteht. Dann habe ich Angst. Vor dem Eingang ziehe ich eine Schutzmaske gegen Viren und Bakterien an, was zusammen mit der Sonnenbrille und dem Stetson auf meinem Kopf relativ kriminell aussieht, jedenfalls starren die Leute (einen Endlosstarrer herrschte ich kürzlich an: «Wotsch Chräbs?»). Mit dem Lift fahre ich ins D, Klinik für Hämatologie. Dort nehmen sie Blut, das dauert fünf Minuten, anschliessend Routinekonsultation: Mund ausleuchten, Blutdruck, tief einatmen, alles ok und tschüss.
Der Stress beginnt erst später. Gegen Abend wird meine Ärztin anrufen und die neuen Blutwerte mitteilen. Waren sie in der vergangenen Woche stabil, so heisst das überhaupt nicht, dass sie aktuell immer noch gut sind. Sie können immer kippen.
"Dieses Wissen tut gut"
Um der Nervosität zu begegnen, habe ich ein Spiel erfunden: Sobald das Handy klingelt, suche ich mir eine Person aus. Irgendeine. Wo ich grad bin. Eine Frau, die im Tram SMS tippt. Einen Verkäufer im Lebensmittelgeschäft. Ich fixiere diese Person. Ich weiss, dass sie nicht reagieren wird, egal, ob das Damoklesschwert über mir nun in den nächsten Sekunden runterfällt oder ob es hängenbleibt. Die Frau wird weiterhin tippen. Der Verkäufer wird weiterhin Gemüse auffüllen. Morgen wird es wieder hell. Die Erde dreht sich.
Dieses Wissen tut gut. Es beruhigt. Nichts verändert sich, ob ich nun mein Todesurteil erhalte oder, um es mit Tiziano Terzani zu sagen, ob ich «noch eine Runde auf dem Karussell» kriege. Das Leben geht weiter. Die Atome, aus denen mein Körper besteht, gibt es schon seit dem Urknall. Sie stammen aus dem Staub erloschener Sterne, sind unzerstörbar und werden noch weiter bis in alle Ewigkeit existieren. Aktuell benutze ich sie gerade; bald werden sie ein Blatt sein, oder ein Fisch, oder eine Nussschale.
Dann nehme ich den Anruf entgegen.
Bis anhin hatte ich Glück. Die Werte sind gut. Dafür bin ich unglaublich dankbar. Wenn ich aufgelegt habe, schaue ich hinauf in den grauen Winterhimmel und bin dankbar, dass ich in den grauen Winterhimmel schauen kann. Ich stütze meinen Kopf auf und bin dankbar, dass ich meinen Kopf aufstützen kann. Ich schaue, wie sich in der S-Bahn die Scheibe mit meinem Atem beschlägt und bin dankbar, dass ich lebe, lebe, lebe.
März 2010
Die Diagnose hatte mir der Hausarzt in einem kaum 30 Sekunden dauernden Telefon beigebracht. Es war der 18. März um 9 Uhr 30. Noëlle hatte mich am Vortag zum Arzt geschickt, weil ich so bleich sei. Dabei war ich überhaupt nicht bleich. In der Praxis nahm man eine Blutprobe, nun war das provisorische Resultat da, ein Verdacht nur, aber was für einer: akute myeloische Leukämie. Ich legte das Telefon weg und schaute wieder auf den Bildschirm. Der Cursor blinkte noch an genau derselben Stelle. Die Bürokollegin hinter mir blätterte weiterhin in demselben Buch.
Auch mein Leben war immer noch gleich, obwohl es total anders war. Ich schrieb die begonnene E-Mail zu Ende und überlegte mir derweil, ob ich einfach sitzen bleiben und den Anruf ignorieren sollte. Niemand konnte mich daran hindern. Es war mein Leben. Ich fühlte mich gut, jedenfalls alles andere als todkrank. Ich würde am Abend nach Hause gehen, zusammen mit Noëlle und ihrem Sohn essen, abwaschen, ihr beim Ukulelespiel zuhören, Nachrichten schauen, dann ins Bett und ihre Beine mit meinen verhaken. Wie jeden Tag. Wie fast jeden Tag. An dieser Variante versuchte ich festzuhalten, so lange es ging. Das waren einige Sekunden. Dann nahm ich die offenen Rechnungen hervor und füllte einen Zahlungsauftrag aus.
Ich sagte den Menschen in meinem Büro, was Sache war, warf noch einige Dinge weg, die nie jemand finden sollte, klebte ein Postit mit einem „?“ an meinen Bildschirm – wann würde ich dieses Fragezeichen wieder sehen, wenn überhaupt? – und verliess das Büro Richtung Universitätsspital. Dort wollte man mir zwecks Verifizierung der Diagnose eine Knochenmarkprobe entnehmen. Es gebe eine kleine Chance, dass ein Virus mein Blutbild verändert habe, sagte der Arzt am Spital. Wie gross ist diese Chance? «1 Prozent», sagte er.
Leukämie
Noëlle verschob alle Termine und kam, um mir beizustehen. Ich lag bäuchlings auf einer Pritsche, die Hose halb heruntergezogen und umklammerte ihre Hand. Als der Arzt die Kanüle durch Fleisch und Beckenknochen bis ins Knochenmark stiess und die Proben heraussog, schrie ich laut. Es war mehr die panische Angst vor dem Ergebnis als eine Reaktion auf den Schmerz. Dieser war scharf, kurz und hell, und er verging sofort wieder. Die Leukämie, falls es eine war, würde mir länger bleiben.
Zwei Stunden später stand das Ergebnis fest: Es war Leukämie. In den letzten Minuten im Büro hatte ich mir noch ein paar Seiten ausgedruckt: Eine von 100'000 Personen erkrankt daran. Sehr aggressiver Verlauf. Unreife weisse Blutkörperchen überschwemmen die Adern. Das Immunsystem versagt. Die Blutgerinnung funktioniert nicht mehr. Gleichzeitig kommt es zu Thrombosen. Kurz: ein Angriff auf mein Leben aus allen Rohren.
Und ich war auch auf die Site des Kickboxers Andy Hug gestossen. Hug war im Jahr 2000 wenige Tage nach der Diagnose gestorben. Er, der Weltmeister mit dem Superbody, hatte von seinem Zustand nichts gemerkt, ebenso wie ich. Ausser Nasenbluten, einer Aphte an der Unterlippe und einigen kleinen Wunden, die seltsamerweise nicht heilen wollten, war mir nichts aufgefallen. Es ging mir ausgezeichnet. Ja, ich war so glücklich wie noch selten. Die Liebe war paradiesisch, beruflich hatte ich Erfolg, und endlich kam genug Geld herein. Hätte ich noch drei Wochen zugewartet, wäre es wahrscheinlich zu spät gewesen, meinte der Arzt am Unispital.
Plötzliche Mutation des Chromosoms 21
Am nächsten Tag begann die Therapie. Es war Noëlles Geburtstag. Ich kam in ein Zweierzimmer, Aussicht über den Zürichsee, dazu das ganze Alpenpanorama. Meine Prognosen standen nicht sehr gut. Ich galt als «Bad Risk», weil die Leukämie durch eine genetische Veränderung hervorgerufen worden war. Eine plötzliche Mutation des Chromosoms 21. Eine Verdreifachung führt zum Down Syndrom, ich hatte sogar vier 21. Mit meiner Schwägerin, Heilpädagogin von Beruf, scherzte ich politisch unkorrekt: «Ich bin ein Supermöngi.»
Aber das Therapieziel war klar und möglich: Heilung. Darauf vertraute ich und war überzeugt, in wenigen Monaten wieder zurück ins Leben kehren zu können. Entsprechend klebte ich ein Papier an meine Zimmerwand, das in grossen Lettern behauptete: «Ausser dass ich krank bin, bin ich gesund». Ich war nicht bereit, wegen ein paar amoklaufender Zellen gleich zu sterben. Das musste doch irgendwie hinzukriegen sein!
Nach drei Wochen stationärem Aufenthalt war die erste Phase der Chemotherapie zu Ende. Ich war mit geradezu unglaublichem Glück durch den Zyklus galoppiert. Während der Mann im Bett nebenan mit endlosem Durchfall kämpfte, seine Haut sich von den Füssen bis zu den Knien abschälte und er mit Morphium vor dem Wahnsinn bewahrt werden musste, stand ich jeden Morgen zur gleichen Zeit wie zuhause auf, machte Toilette, wartete ungeduldig auf die Zeitung und vertilgte dann das ganze Frühstück bis auf die letzte Brosame, inklusive einer Sonderportion Käse und eines Sonderjoghurts.
Anschliessend trat ich zum selbstverordneten Morgentraining an: 30 Ganglängen à 80 Meter, im Schlepptau den Ständer mit vier Infusionen. Mit Ausnahme eines glatzköpfigen Zwei-Meter-Athleten war ich der Schnellste auf dieser Rennstrecke. Darauf war ich stolz; denn insgeheim herrscht hier ein gnadenloser Konkurrenzkampf, oder besser gesagt, hier achtet jeder eifersüchtig darauf, dass es ihm besser geht als den anderen Patienten und Patientinnen. Geht der Alarm, ist man froh, wenn er das Zimmer nebenan betrifft. Wem gelten die sorgenvollen Gesichter der Ärzte? Aha, Frau B. Nicht mir! Lieber Gott, hier sind zwar alle arme Schlucker, aber bitte lass doch mich überleben.
Bad News
Doch dann kam auch ich an die Reihe mit Bad News. Eines morgens stellte sich die Oberärztin ans untere Bettende, machte sorgenvolle Augen und eröffnete mir, der erste Zyklus habe nicht richtig funktioniert. 90 Prozent der Patienten würden bestens darauf ansprechen, sagte sie, ich gehöre leider zum bedauernswerten Rest. Die Leukämie war noch da. Man werde aber trotzdem sofort mit dem zweiten Zyklus beginnen, in der Hoffnung auf mehr Erfolg. Ich schluckte das Verdikt und versuchte – was blieb anderes übrig – das Beste daraus zu machen.
Zudem vertraute ich weiter auf eine Heilung, denn in einer der endlos langen Nächte war mir das Bild meines Grabsteins erschienen. Darauf stand als Todesjahr klar und deutlich: «2035». Das war voll ok. Ich, Jahrgang 1955, würde also erst mit 80 sterben. Diese Voraussage schrieb ich auf ein grosses Blatt, malte einen Sonnenaufgang dazu und klebte es neben den anderen Spruch an die Wand.
Verraten von der Medizin?
Nach weiteren drei Wochen hatte ich auch den zweiten Zyklus intus. Diesmal bat die Oberärztin zur Analyse in ihr Besprechungszimmer. Sie schwieg auf dem Weg dorthin, kein Lächeln, kein aufwärts gedrehter Daumen, was ich sofort richtig interpretierte: Behandlung wieder schief gelaufen! Tatsächlich war es so. Die Zytostatika hatten erneut nicht genügend gewirkt. Betrübt den Kopf schüttelnd teilte sie mir mit, dass mein Knochenmark weiterhin kranke, unreife weisse Blutkörperchen ausschütte. Sie sprach die Konsequenzen nicht aus, aber es war klar: Meine Überlebenschancen sanken gegen null.
Ich wollte tapfer sein, aber es ging nicht. So begann ich hemmungslos zu heulen, in Anwesenheit der Oberärztin, die beinahe meine Tochter hätte sein können. Das bewog sie, mir tröstend die Hand zu streicheln, als wäre ich ihr Kind. Ich fühlte mich endlos allein, gepeinigt vom Leben, verraten von einer Medizin, in die ich offenbar allzu blind vertraut hatte. Und ich ärgerte mich über mich selbst, dass ich überhaupt in diese Therapie eingewilligt hatte; denn inzwischen war auch ich abgemagert, litt unter Dauerübelkeit, hatte Infektionen und Fieber, die Haare waren verschwunden und auch die Lust am Leben. Alles in mir war vergiftet, alles an mir war weg, nur noch die verdammten Krebszellen waren da.
Rundmail an Freunde und Freundinnen
Am selben Tag entliess man mich nach Hause, damit ich für die Wiederholung des zweiten Zyklus etwas Kräfte gewinnen konnte. Es war Mai und wurde wärmer. Ich sass stundenlang auf dem Balkon und schaute in den Wald, lauschte auf das Rauschen der Blätter und tat nichts, ausser mich daran zu gewöhnen, dass mir nicht mehr viel Zeit blieb. Ich versuchte mich innerlich auf den Abschied von Noëlle und ihrem Sohn vorzubereiten, hatte aber keine Ahnung, wie man so was angeht. Noëlle hatte mich durch diese Zeit wie eine Arche getragen, deren einziger Passagier ich war. Sie hatte mir das heisse Gesicht gekühlt und die schmerzenden Füsse massiert. Sie hatte geträumt, wie sie mir ihr gesundes Blut schickt und wie es mich heilt. Und nun sah alles ganz anders aus. Es schien, als würde diese wunderbare Liebe so plötzlich enden, wie sie begonnen hatte. «Amore della mia vita», liess ich in einen Ring gravieren.
Dann sandte ich eine Rundmail in sachlichem Ton an alle meine Freunde und Freundinnen. Sie versprachen von Zürich über Winterthur, Genua, Delhi, Hawaii, Mannheim, Bali, New Mexico, Dharamsala und Windhoek noch mehr für mich zu beten als zuvor. Von allen Seiten gab es Mitgefühl à discrétion. Man bewunderte meine Gelassenheit angesichts der hoffnungslosen Situation. Ich las die Pflichtlektüre aller Schwerkranker, das Tibetische Totenbuch, und meldete mich bei Exit an. «Lasst mich nicht als Wrack sterben!», schrieb ich auf die Patientenverfügung.
Tage später, abends gegen halb neun, begann das Handy auf dem Gestell im Gang zu vibrieren. Ich erkannte die Nummer des Spitals, hatte aber keine Ahnung, was das sollte. Um diese Zeit. Lasst mich doch in Ruhe. Ich schaute mir gerade im Internet diverse Sterbehospizen an – am besten gefiel mir eines in Irland direkt über der Küste des Atlantiks – und versuchte mich darauf einzustellen, dass das wohl meine letzten Destination sein würde (immerhin noch einmal fliegen). Dann nahm ich trotzdem ab.
"Alles anders"
Es war der Kollege meiner Oberärztin. Weitere Abklärungen bezüglich meines Blutbildes hätten ergeben, dass der zweite Zyklus durchaus funktioniert habe, sagte er. Zusammen mit der Oberärztin habe er bis in alle Nacht nochmals alles angeschaut, mit dem erfreulichen Resultat, dass er das erste Verdikt zurücknehmen könne. Die Schwemme von unreifen weissen Blutkörperchen in meinen Adern seien nur eine Überreaktion des Körpers auf die Therapie. Es habe sich gezeigt, dass sie sehr wohl ausreifen und auch gesund seien. Das bedeute: In meinem Körper gebe es, soweit er feststellen könne, keine Leukämie mehr. Und: Auch die genetische Mutation, die Tetrasomie des Chromosoms 21, sei weg. Alles klar? Gute Nacht.
Ich legte das Telefon weg und ging durch die Wohnung. Ich hörte mich laut atmen und konnte es nicht glauben. Die Füsse schwammen in Watte. Ich schaute die Bananen, Äpfel und Orangen in der Obstschale an und sah sie leuchten wie noch nie. Ich ging hinaus auf den Balkon und hörte die Blätter im nahen Wald einen tausendfachen Applaus rauschen. Ich rief Noëlle bei der Arbeit an, und ich schrieb sofort eine neue Rundmail, Betreff: «Alles anders». Mein Leben hatte wieder eine Perspektive. So schnell geht es! Ich lachte, brüllte und schluchzte gleichzeitig.
Dann holte ich den Staubsauger und entfernte endlich all die Brosamen, die sich seit Tagen angesammelt hatten und den Küchenboden wie Rollsplit bedeckten. Doch während ich saugte, begann ich mich mehr und mehr zu ärgern. Eigentlich war es unglaublich. Da schickte man mich quasi mit dem Todesurteil in der Tasche nach Hause, um es ein paar Tage später aus heiterem Himmel umzustossen. Ich stand bereits mit der Schlinge um den Hals vor dem Henker und wurde – schwupps! – doch noch begnadigt. Ein paar Laborwerte, die blöderweise zu früh und entsprechend falsch interpretiert worden waren. Macht doch nichts! Ist doch halb so schlimm! Keine Entschuldigung, kein «es tut uns leid». Nichts. Der Mensch ist ja, um es mit Descartes zu sagen, nur ein animierter Apparat, seine Seele in keinen metrischen Einheiten fassbar und somit medizinisch unwichtig, insgesamt also so überflüssig wie die glasierte Kirsche auf der Schwarzwäldertorte.
Das Eis ist dünner als gedacht
Dieses Auf und Ab liess mich realisieren, dass ich einen neuen Zugang zu meiner Krankheit – und somit zu meinem Leben – finden musste. Ich lebte nun in einer anderen Sphäre. Meine Zukunft würde so wenig planbar sein wie das Wetter. Hiobsbotschaften würden auf Glücksbotschaften folgen, und umgekehrt. Es würde keine Kontinuität mehr geben. Ich würde meinen Alltag neu ausrichten müssen, finito Karriere, im Mittelpunkt - dafür die Gesundheit, dazu mehr Kochen und Putzen. Und ich würde akzeptieren müssen, dass ich nicht mehr jenes Grundvertrauen ins Leben haben konnte, mit dem ich gross geworden war. Da atmet man 55 Jahre lang regelmässig ein und aus, macht also 350 Millionen Atemzüge, ist überzeugt, dass das auch morgen noch so sein wird, aber dann ist plötzlich alles anders.
Das Eis ist dünner als gedacht, und einmal gebrochen, will es nicht wieder gefrieren. Plötzlich wird alles sehr emotional. Tränen beim Anblick einer Spinne, die einen Schmetterling aussaugt. Tränen, wenn Federer gewinnt. Tränen bei Jovanottis «A te». Aber ich realisierte auch, dass ich nun endlich tun konnte, was ich mir schon seit 1968 immer wieder vergeblich vorgenommen hatte: nichts mehr anstehen zu lassen. Also Noëlle sofort umarmen, sofort ans Meer reisen, sofort Pommes frites essen und sofort Motorrad fahren. Das fühlte sich gar nicht so schlecht an.
Juni 2010
Tage später kam Post vom Universitätsspital: «1. Juni, 9 Uhr, Eintritt Sterilpflege». Die ersten beiden Phasen der Therapie waren abgeschlossen, nun stand die dritte bevor. Sie war nötig, obwohl in meinem Körper keine Leukämie mehr aufzufinden war. Die fehlende Nachweisbarkeit hiess nicht, dass sich nicht irgendwo noch einzelne mutierte Zellen versteckten. Sollte nur eine von ihnen aktiv werden, würde mein Körper in Kürze wieder in leukämischem Vollbrand stehen.
Mit dem dritten stand mir nun der härteste und längste Zyklus bevor. Eine «Rosskur», wie ein befreundeter Arzt meinte. Das hiess: zuerst eine weitere Chemotherapie mit noch giftigerem Gift, dann sechs Ganzkörperbestrahlungen à je 30 Minuten, dann die Transplantation von Stammzellen aus dem Blut meiner Schwester. The full program. Diese Tortur sollte meine Überlebenschancen um 20 Prozent erhöhen. Wobei allein die Mortalität im Rahmen der Behandlung bei durchschnittlich 10 Prozent liegen würde, wie es auf der Einverständniserklärung hiess. Ich unterschrieb. Jedes Prozent zusätzliche Überlebenschance war unermesslich viel wert, egal zu welchen Bedingungen.
Die Abteilung Sterilpflege
Man wird bescheiden in solchen Situationen. Das Herz musste noch schlagen, und ich wollte noch küssen können. Wenigstens das, denn Sex, so hiess es, sei nach dieser Malträtierung meines Körpers kaum mehr möglich. Die Abteilung für Sterilpflege liegt im obersten Stock des Zürcher Universitätsspitals. Eine unscheinbare märchenwaldgrüne Tür in einer märchenwaldgrünen Wand. Keine Klinke, nur eine Gegensprechanlage, dahinter eine Schleuse zum Wechseln von Schuhen und Kleidern, dann erst darf die Station betreten werden. Die Luft ist so rein wie in den Operationssälen, das Wasser kommt über ein spezielles Leitungsnetz, das Personal trägt Hauben und Schutzmasken. Insgesamt: spacy.
Eine dieser Figuren führte mich in mein Zimmer, was heisst Zimmer, es war ein Plastikzelt innerhalb eines Zimmers, darin ein Bett, ein Chromstahltischchen, eine Trockentoilette, sonst nichts. In der Plastikwand fest eingebaut waren ellenlange Latexhandschuhe, wie sie Veterinäre brauchen, um Kühe künstlich zu besamen. Ausser diesen Handschuhen würde ich keinen physischen Kontakt zu Noëlle haben können. Auch der Fernseher stand auf der anderen Seite der Zeltwand, was das Bild nicht nur milchig machte, sondern zudem in welligen Falschfarben auflöste. Einziges Geräusch neben der Lüftung war das stoische Ticken einer überdimensionierten Wanduhr. Tick. Tick. Tick.
Mich befiel der Horror vacui. Fünf Wochen würde ich in dieser Leere ausharren müssen. Das Wort «Folter» kam mir in den Sinn, aber ich strich es sofort wieder. Mehr als nur das: Ich verurteilte mich dafür, dass es mir überhaupt in den Sinn gekommen war. Eine Folter tötet. Mir würde die bevorstehende Qual zu überleben helfen.
Eine Art Winterschlaf
Ich legte mich ins Bett und beschloss, in eine Art Winterschlaf zu verfallen. Dafür musste ich mich nicht einmal besonders anstrengen, denn zunehmend schwächer durch Chemotherapie und Bestrahlung döste ich die meiste Zeit. Um einen Schluck Wasser zu trinken, brauchte ich an die zehn Minuten. Ich sagte meinem Hirn, was die Muskeln tun sollten, aber sie taten nichts. Das Glas auf dem Tischchen blieb einfach stehen. Ich dämmerte weg, träumte von einem sprudelnden Bergbach im Engadin, wachte wieder auf, schaute erneut nach dem Glas, fixierte es und raffte alle Kraft zusammen, nur um festzustellen, dass die Hand weiterhin bewegungslos auf dem Duvet lag.
Die Tage und Nächte verflossen. Mein Essen bestand aus geschälten Apfelschnitzen, mehr ertrug ich nicht. Während ich kaute, dachte ich darüber nach, dass ich genau diese Schnitze nie wieder in meinem ganzen Leben sehen würde. Diese Tatsache beschäftigte mich sehr. Hatte ich genug Energie um aufzustehen, stellte ich mich ans Fenster und schaute den Passanten im Spitalpark zu. Kam jemand in einer roten Jacke innerhalb von zehn Atemzügen vorbei, so bedeutete das Glück.
Manchmal stellte ich auch den Stuhl ans Fenster und wartete, bis ich Noëlle kommen sah, beobachtete jeden ihrer Schritte draussen in der Freiheit, sah ihre Haare im Wind und erkannte schon von weitem die Erschöpfung, die Müdigkeit, die Angst in ihrem Gesicht. Einzige Abwechslung waren die Ausflüge in die Katakomben des Spitals, wo die Abteilung für Nuklearmedizin untergebracht ist. Dort hiess man mich auf ein martialisch hartes Gestell liegen, unbeweglich, um über die folgenden 30 Minuten nicht nur mit Röntgenstrahlen bestrahlt zu werden, sondern auch mit den immer gleichen James Blunt-Songs.
Eines Tages fand ich ein winziges Insekt an der Fensterscheibe meines Zimmers. Keine Ahnung, wie es all die Filter überlebt hatte. Ich bugsierte es in eine Pillenschachtel und klingelte. Die Pflegerin solle das Tier bitte nach draussen bringen. Ich hatte ein Leben gerettet. Bitte, lieber Gott, sagte ich, schau, was ich gemacht habe. Und denk doch auch an die vielen Regenwürmer, die ich schon vom sommerheissen Asphalt aufgelesen habe. Und vergiss auch nicht die sechs Küken, die ich einst halbtot, pudelnass und unterkühlt in einem Abflussrohr fand. Ich hüllte sie in ein Tuch, trug sie nach Hause und reanimierte sie erfolgreich bei 30 Grad im Backofen. Nun sei bitte gerecht. Lass auch mich leben.
Produktionen im Gehirn
Zum liebsten Zeitvertrieb wurde mir jedoch schon bald die Imagination von Dramen. Ich weiss nicht, wie ich darauf gekommen war, aber das war besser als alles, brauchte keine Energie und war wie ein LSD-Trip. Jedenfalls produzierte mein Hirn, einmal losgelassen, die absonderlichsten Szenen. Beispiel: Während der bevorstehenden Transplantation der Stammzellen würde ich völlig cool bleiben. Meine Familie würde zwar bangen, dass alles klappt und ich in diesem entscheidenden Moment weder allergisch reagiere noch sonst wie kollabiere. Aber ich würde den totalen Überblick behalten, nicht nur über mein Leben, sondern auch über das meiner Liebsten.
Das hiess: Während die Zellen zu Millionen durch den Katheter in meinen Körper flossen, würde ich weder vor Todesangst wimmern noch mich übermässig freuen; ich würde Noëlle vielmehr an eine unerledigte Lappalie aus unserem Alltag erinnern: dass wir die bereits gekauften Billette für eine Theateraufführung zurückgeben müssen.
Nur ein kleiner Gedanke. Ein Ausrutscher des Hirns – aber er machte mich zum Master of The Universe, der alles beherrscht und durch nichts aus der Ruhe zu bringen ist. Indem ich an die blöden Tickets dachte, bewies ich eindrücklich, wie verantwortungsbewusst und umsichtig ich auch in der verzweifeltsten Lage handeln kann, eine quasi übermenschliche Leistung und Beweis meiner Kapazitäten. Ich war ein Superheld.
Diese Situation spielte ich immer wieder durch und fand mich dabei wirklich sehr überzeugend. Im Verlaufe der Zeit entwickelte ich zusätzliche Varianten. Sie wurden immer verwegener und schlossen ein, dass die gespendeten Zellen nicht anwuchsen und ich folglich bald sterben würde. Das war noch besser. Ich sah mein Bett umringt von meinen Verwandten und wie ich ihnen mit schwacher Stimme mitteilte, wie es stand. Dabei war ich der einzige, der nicht flennte. Ich würde daliegen, ruhig und entspannt, ein wissendes, ja beinahe erleuchtetes Lächeln auf den Lippen.
Wenn der Körper verrückt spielt
Natürlich schämte ich mich für diese Phantasien. Ich war todkrank, aber anstatt demütig auf Besserung zu hoffen, offenbarte ich vielmehr einen krassen Hang zur Dramatik, der seinen Kulminationspunkt im Exitus fand. Aber ich fand dafür auch eine Erklärung, nicht zuletzt, um mich davon zu überzeugen, dass ich mir nicht zusätzlich auch noch einen psychischen Knacks geholt hatte. Die Erklärung geht so: Wenn der Körper verrückt spielt, dann darf auch der Geist so reagieren – oder er muss sogar gezwungenermassen auf dem gleichen Level mitmachen. Die Phantasien helfen die Terra Incognita im Hirn zu erforschen, erobern, befestigen und mit Inhalt zu füllen.
Denn das imaginierte Drama stellt nichts anderes dar als die mehr oder weniger logische Weiterführung der theoretisch möglichen Situationen. Diese Möglichkeiten müssen ausgelotet und durchgespielt werden, damit der Boden unter den Füssen nicht mehr derart arg wackelt. Das ist die einzige Möglichkeit, einer so miserablen Situation wie meiner doch noch irgendetwas Erfreuliches abzugewinnen. Das Hirn versucht aus der Situation der totalen Schwäche, Unterlegenheit und Verzweiflung das Beste zu machen. Wenn es schon schief gehen muss, dann bitte mit Effekt. Wir sind doch alle gerne Helden und wollen auch als solche in Erinnerung bleiben; denn viel anderes als Memoiren bleiben nicht zurück.
Die Transplantation
Die eigentliche Transplantation war ein kurzer Akt. Es war der 9. Juni gegen 16 Uhr. Eine der Pflegerinnen näherte sich meinem Spaceship und dockte einen Beutel mit einer hellroten Flüssigkeit an. Meine Schwester Franziska und Noëlle sassen da, von mir getrennt durch diesen Milchplastik. Franziska hatte man zuvor stundenlang an eine Zentrifuge angeschlossen, um ihre Stammzellen aus dem Blut herauszufiltern.
In der Zwischenzeit hatte ich einen Vertrag aufgesetzt, der besagte, dass meine Schwester keinerlei Schuld und Verantwortung tragen würde, sollte die Transplantation schiefgehen und ich sterben. Wir unterschrieben das Papier mit derselben Dramatik, wie zwei Staatsmänner die Öffnung ihrer zwischenstaatlichen Grenzen beschliessen. Ich würde künftig ein Teil meiner Schwester sein; denn mit der Transplantation flossen nicht nur ihre Stammzellen zu mir hinüber, sondern auch ihr Immunsystem. Ich hatte künftig ihre Blutgruppe. Ich würde von nun an auf die gleichen Dinge allergisch reagieren wie sie. Und ihre vorbestehenden Viruserkrankungen würden die meinen werden.
Aber vor allem: Mit der Transplantation reduzierte sich die Gefahr eines Rückfalls. Denn das Immunsystem meiner Schwester würde die Fähigkeit haben, ein allfälliges Wiederaufflammen meiner Leukämie aktiv zu bekämpfen und die verrückt spielenden Zellen zu killen – etwas, das meine eigene Abwehr nicht mehr zustande gebracht hatte.
Nach zahllosen Tests war das Transplantat endlich bereit. Es tropfte über den Zentralenvenenkatheter unterhalb des Schlüsselbeins in meinen Körper und suchte sich von da selbständig den Weg in die toten, ausgebrannten, verstrahlten, vergifteten Knochenröhren, um dort neues Leben zu schaffen. In Hiroshima sollte es wieder Frühling werden, so stellte ich mir das vor. Schwarze Häuserskelette, dazwischen blühende Kirschbäume.
Die dunkelste Zeit
Zehn Tage dauerte es, bis klar war, dass die Transplantation funktioniert hatte. So lange brauchten die neuen Stammzellen, um in meinem Knochenmark die Blutproduktion wieder in Gang zu bringen. So lange lag ich da, im Ungewissen, totenbleich, entkräftet, Angst als neuer Gesichtszug. Es gab nichts zu tun ausser zu warten. Und zu hoffen. Ich las keine Zeile. Ich hörte keine Musik. Ich tat nichts, ausser der Wanduhr zuzuhören. Bis eines Morgens eine der Astropflegerinnen das Blatt mit den aktuellen Blutwerten an die Zeltwand drückte: Die Neutrophilen waren nicht mehr bei Null. Es tat sich etwas! Das Knochenmark arbeitete wieder!
Vier Wochen nach der Transplantation konnte ich nach Hause. Obwohl ich überlebt hatte und entsprechend glücklich sein sollte, fühlte ich mich schrecklich. Meine Psyche war klinisch tot. Ich hing als schwarze Wolke über dem Familienleben. Noëlle, ansonsten ein Vulkan von Energie, wurde stiller und stiller. Ihr Sohn mied meine Gegenwart. Ich war eine Last, allen, auch mir selbst. Wenn ich am Bahnhof auf den Zug wartete, nahm ich vom Geleise bewusst Abstand. Ich näherte mich keinem Fenster, das mehr als drei Stockwerke über dem Boden lag.
Die dunkelste Zeit meines Lebens begann. Im Spital starrte der Assistenzarzt auf den Bildschirm mit den Laborwerten und sagte «gut, gut», während ich eigentlich nur noch sterben wollte. Ich rief jeden Tag verzweifelt meinen Spiritus Rector an, einen Mann mit unerklärlichen Kräften, der mich irgendwo in der Innerschweiz auf seinem Pferd reitend beschwor, nicht aufzugeben. In den Nächten hatte ich Angst wie ein Kind. Helle Panik in der Dunkelheit. Ich lag wach und drückte den Mund aufs Kissen, um nicht laut zu schreien. Über Wochen, über Monate.
Ich ging zum besten Psychiater, der mir nur widerwillig Psychopharmaka verschrieb, mich dafür lehrte, dass ich mir nur selbst helfen kann. Ich suchte Zuflucht in der Arbeit, schrieb zwei Sätze pro Stunde, löschte sie, schrieb sie neu, löschte sie wieder, und auch nach einem weiteren Versuch waren sie immer noch unbrauchbar. Ich mischte mich unter den Mahlstrom der Pendler und gehörte doch nicht dazu. Ich lebte, war aber tot. So ging es den ganzen Herbst, den ganzen Winter und den ganzen nächsten Frühling.
Erst dann fand ich zum Leben zurück. Ein Wunder. Es wurde nur möglich, weil ich nochmals beinahe starb.
Sommer 2011
Am 26. Juni morgens um ein Uhr erwachte ich und stellte fest, dass ich sitzend und in den Kleidern eingeschlafen war. Sitzend, weil ich seit Wochen nur noch so atmen konnte. Zwischen meinen Beinen eine Lache, die ich nicht einordnen konnte. Ich stand auf und weckte Noëlle, die vor mir geflüchtet war und auf einer dünnen Schaumstoffmatratze im Wohnzimmer schlief. «Wir müssen gehen», sagte ich. Der Fiebermesser zeigte 40 Grad, mein Körper war so grotesk aufgedunsen wie das Michelinmännchen, die Lungen rasselten, ich spürte das Herz flimmern, Lymphknoten wie Kirschen – Angst vor einem Rückfall. Noëlle fuhr mich in den Notfall. Aus dem Auto rief ich den diensttuenden Arzt an und erklärte die Sachlage.
Als wir ankamen, waren meine Daten bereits erfasst, auf einer roten Karte. Rot hiess wohl: ein Notfall im Notfall. Ich legte mich auf die zugewiesene Pritsche und fixierte die flimmernde Neonröhre an der Decke. Nebenan schrie unentwegt eine Frau. Die Pflegerin brachte eine Sauerstoffmaske, deren Zischen mich an Dennis Hopper und seine Aktionen in «Blue Velvet» erinnerte. Immerhin, sagte ich mir, kommt dir noch sowas in den Sinn. Sollte es keine ultimative Besserung geben, würde ich auf die Intensivstation verlegt.
Es gab keine Besserung.
Auf der Intensivstation bereitete man die Intubierung vor. Ich hatte viel zu wenig Sauerstoff im Blut. Ich erinnerte mich, dass ich so etwas einmal bei «Gray’s Anatomy» gesehen hatte. Menschen mit einer Art Pipeline im Mund, viele Maschinen und Monitore, der Patient in Dauernarkose und mit Schaum auf den Lippen. So stand es also um mich!
Die Standesbeamtin kommt
Noëlle bat mit dem Eingriff zu warten, bis die Standesbeamtin dagewesen war. Wir hatten beschlossen, notfallmässig zu heiraten. Weniger als ultimative Vergewisserung unserer Liebe, sondern vielmehr, um ihr den Papierkram nach meinem allfälligen Ableben zu erleichtern. Die Beamtin kam und las, was gelesen werden musste. Eine groteske Situation zwischen herzergreifend und verzweifelt. Ich weiss nicht einmal mehr, ob ich Noëlle geküsst habe («Ja», sagt sie).
Geblieben sind mir das über die Abwechslung erfreute Pflegepersonal und die seltsamen Strümpfe der Zivilstandsbeamtin, später ihr Satz: «Wahrscheinlich bleibt Ihnen ja nicht mehr viel Zeit...». Ich dachte: «Musst du mir das so direkt sagen?»
Dann versank ich in den unergründlichen Sümpfen des künstlichen Tiefschlafs. Die Zeit verlor ihre Konturen. Sie verging nicht, sie war gar nicht da. Noëlle, meine Schwester, mein Bruder und Freund Manuel sassen lange Stunden neben mir, während ich vor mich hin röchelte. Ab und zu wachte ich auf, einmal, weil die Nachtpflegerin an den Schläuchen nestelte. Ich sah sie an und verliebte mich haltlos. Sie war wunderschön, trug ein weisses Kleid mit einem weissen Stirnband, daran kleine farbige Perlen. Ein Engel, mir persönlich geschickt. «Sie sind ja ganz unruhig, Herr Schmidt», flüsterte sie mit sanfter Stimme, «ich gebe Ihnen gleich was.» Oh ja, gib mir was, dachte ich, wir fahren zusammen gen Himmel, und schon kam sie mit einer kleinen Spritze. Zack! Ich war wieder weg und damit auch die Verliebtheit.
"Geben sie noch dreissig"
Meistens weckte mich aber ein unbändiger Durst, was ich aber aufgrund des Schlauchs in meinem Rachen nicht sagen konnte. Also schrieb ich auf die Handfläche. Ich schrieb gestochen scharf, aber alle ausser mir sahen nur verwackelte Hieroglyphen. Niemand verstand mich, und ich verstand nicht, warum man mich nicht verstand.
Während dieser Wachphasen zeigte sich, wie nahe ich dem Tod hier war. «Geben Sie noch dreissig,» sagte der Dienstarzt mehrmals täglich mit seiner sonoren Stimme. Damit meinte er, in den Kojen nebenan solle eine der in grüne Laken gehüllten Mumien noch 30 Milligramm oder Milliliter von irgendwas erhalten. Etwas später folgte die Frage: «Ist der Körper noch warm?» Fiel die Antwort der zuständigen Pflegerin bejahend aus, sagte er: «Erstaunlich.» Als einmal keine Antwort kam, schlug im selben Moment ein Fenster – obwohl nicht der geringste Wind ging. Das war die Seele des armen Schluckers, dachte ich und fröstelte. 20 Gramm.
Nach einer knappen Woche war klar, dass ich über den Berg war. Der Schlauch kam raus. Manuel rannte durch das ganze Spital, um mir meinen ersten Menüwunsch zu erfüllen: eiskalte Melone. Ich werde ihm das nie vergessen. Ein paar Tage danach wurde ich wieder auf den H-Stock verlegt, um mich weiter zu erholen. Man hatte mir 13 Kilo Wasser abgelassen, die Haut lag wie vertrocknetes Pergament über den Knochen, und für die zwei Meter vom Bettrand bis zum Lavabo musste ich beidseits gestützt werden. Ich war am Ende. Doch ich hatte überlebt. Einmal mehr.
Ihr Immunsystem kämpfte gegen mich
Und nach unzähligen Abklärungen war endlich klar, dass ich keinen Rückfall erlitten hatte. Gott sei Dank. Nur eine Lungenentzündung. Nur katastrophale Nieren- und Leberwerte. Nur eine verspätete, dafür umso heftigere Abstossungsreaktion zwischen meinem Körper und den Stammzellen meiner Schwester. Ihr Immunsystem, das mich eigentlich beschützen sollte, kämpfte gegen mich. Es definierte meinen gesamten Körper als Feind und stiess ihn entsprechend ab. Es tat zwar nichts als seine Pflicht, aber es war auf bestem Weg, mich umzubringen.
Erst nach einem Monat stand fest, wer gewonnen hatte. Oder anders gesagt: Das Immunsystem war mittels Medikamenten so unterdrückt worden, dass meine Organe sich aus dem Klammergriff befreien und sich erholen konnten. Als ich am 25. Juli um 15 Uhr zusammen mit Noëlle Richtung Ausgang ging, war ich mir nicht sicher, wo nun mein Zuhause ist: im Spital oder in unserer Wohnung.
November 2011
Fünf Monate sind vergangen. Noch immer schwanke ich beim Gehen wie ein Schiff im Sturm. Auch geistig bin ich noch nicht up to date, gelinde gesagt. In der Migros finde ich den Einkaufswagen nicht mehr, obwohl ich mir genau gemerkt habe, wo ich ihn gelassen habe. Dafür stosse ich einen fremden vor mir her. Im Möbelgeschäft spreche ich Kundschaft an, weil ich sie mit dem Personal verwechsle. In der Waschküche muss ich entnervt kapitulieren, wenn ich ein Hemd mit nach innen gestülpten Ärmeln zu entwirren versuche. Wenn ich von Hand Notizen mache, schneide ich bei Buchstaben wie «g» und «p» die Unterlängen ab, mache dafür bei «i» und «d» Unterlängen. Mein Hirn ist Matsch.
Insgesamt geht es mir aber gut. So gut wie nie mehr seit dem Tag der Leukämiediagnose. Das Leben ist, wie es ist. Ich bin abgebrüht, und das gibt eine ungeheure innere Freiheit. Verloren habe ich schon, jetzt geht’s ums Gewinnen, und das will ich. Nach der Leukämietherapie im Frühjahr 2010 wollte ich so schnell als möglich zurück in die Normalität. Mit dem Zug in die Stadt, Büro, Arbeit, zurück. Das ist nun, nach dem zweiten K.o.-Schlag, anders.
Heute gehe ich mit einem knorrigen Spazierstock durch die Stadt und schaue den Pendlern beim morgendlichen Gehetze zu, auf dem Kopf den Stetson, buntes Halstuch, dazu eine Sonnenbrille. Cool. Wenn schon, denn schon. Die Leute sehen, dass der Typ anders ist. Aber sie wissen nicht genau, was mit ihm ist. Seine schlotternden Hosen muss er alle paar Minuten hochziehen, aber das tut er doch irgendwie selbstbewusst. Was er auch immer hat, er macht etwas daraus.
Den Dramen abschwören
Ich brauche auch keine Psychopharmaka mehr. Wenn ich nachts wach liege, freue ich mich, dass ich wach liege und Zeit zum Nachdenken habe. Am Morgen bin ich guter Laune, trotz allem, mit allem, wegen allem. Dank meiner Geschichte brauche ich auch keine Entschuldigungen mehr; es gibt immer einen Grund zu kneifen: Oh, sorry, das ist mir zu schwer. Kann ich die Tasche Dir überlassen? Blöd, dass der Text so eilt, aber Du weisst ja... Das ist extrem praktisch und universell anwendbar.
Meine Haare sind nachgewachsen – so dunkel wie vor zehn Jahren. Ich bin wieder ein Mensch, und auch wieder ein Mann. Nicht ganz so wie früher, aber annähernd. Mein Leben besteht wieder aus Erotik, Meer und Abenteuer. Und ich habe gelernt, den Dramen abzuschwören. Wenn jemand sagt, «Wow, Du siehst so gesund aus, diese roten Wangen!», dann antworte ich nicht mehr in verschwörerischem Unterton, «das ist nur das Cortison...», sondern ich bedanke mich artig. Ich habe gelernt, dass man Dramen nicht nur inszenieren, sondern auch exszenieren kann. Das macht das Leben nicht nur einfacher, sondern erspart zehn Jahre Meditieren und sämtliche Selbsterfahrungsgruppen. Kurz: Krebs ist eine Abkürzung auf dem Weg zur Erleuchtung.
Januar 2012
Schön wärs. An manchen Tagen bin ich alles andere als so abgeklärt. Dann ist alles Positivdenken nur gelogen und nichts als läppische Theorie. Dann bin ich schwach, ängstlich und klein. Ich fahre Ski – ja, das kann ich wieder – und rufe in die Nebelschwaden: «Hilfeeeeeeee!». Aber leise, sodass mich niemand hört. Ich recke den Kopf den eisigen Schneeflocken entgegen und lasse sie auf den Wangen mit den heissen Tränen zerfliessen. Ich trinke in der Berghütte einen Pfefferminztee und bin unter all den Snowboardern ein Aussätziger. Ich zittere pausenlos. Ich fahre als letzter ins Tal und überlege mir, fernab der Piste eine Schneeverwehung zu suchen und dort zu bleiben.
In der Nacht träume ich, dass ich mit Amy Winehouse ins Bett steige. Sex mit einer Toten! Bin ich schon im Himmel, oder erwartet mich das in der Hölle? Am Morgen schliesse ich mich in der Hoteltoilette ein, stecke mir eine Taschenlampe in den Mund und leuchte die Konturen meines Schädels aus. Das habe ich als Kind schon gemacht. Den Tod in mir studiert. Er ist immer da. Früher war ich fasziniert, heute habe ich nur noch eine Scheissangst.
Ich schaue in den Garten
Aber dann gibt es wieder die anderen Tage. Dann kann ich die Angst transformieren, ich kann sie bändigen und im Zaume halten, einigermassen zumindest. Das Know-how dafür habe ich im Schlaf gelernt: Ich träumte kürzlich, einen Bildband von Edward Weston anzuschauen, darin die Aufnahme eines Torsos. Das Bild war jedoch nicht statisch. Der Bauch der fotografierten Person hob und senkte sich. Legte ich meine Hand auf das Papier, spürte ich das Auf und Ab. Das beruhigte mich ungemein. Ich träumte, wie ich dasass und nichts anderes tat, als meine Hand auf diesen Bauch zu halten. Ein und Aus. Ein und Aus.
Diese Erfahrung habe ich in meinen Alltag übertragen. Spüre ich die Todesangst aufsteigen, so schaue ich in meinen Garten, wo sich vielleicht gerade die Katze des Nachbarn auf einem Stein wärmt. Ich schaue auf ihren Bauch und beginne im gleichen Rhythmus zu atmen. Ein und aus, ein und aus. Und schon bald bin ich die Katze, zufrieden in der Sonne liegend. Überfällt mich die Angst im Theater, schaue ich auf den Bauch der Schauspielerin, die gerade am Bühnenrand steht und ihren Text deklamiert, und schon bald spüre ich ihre Energie in mir. Ich kann mich in diese Wesen versetzen, ich bin diese Wesen. Dann bin ich so gesund und kräftig wie sie. Das Grundvertrauen ist da, die Existenz ist garantiert. Für den Bruchteil einer Sekunde.
Für ewig.