Über siebzig Staaten gehen im Jahr 2024 an die Urnen. Es ist ein Beweis der weltweiten Selbstverständlichkeit der Demokratie. Doch mit Plato wissen wir: Das Stiefkind der Demokratie heisst Diktatur.– Ein Überblick zu Bangladesch, Pakistan und Indien.
Am Sonntag gehen die Wähler in Bangladesch an die Urnen. Es ist die erste von vielen Parlamentswahlen – weltweit über siebzig – in diesem Jahr. Man könnte es einen Triumph der Demokratie nennen, auch wenn deren Attraktivität am Verblassen ist. Immerhin muss man ihr einen fortdauernden Sex-Appeal zugestehen, rufen doch selbst Diktatoren ihr Volk an die Urnen, wenn auch ihre Definition von Volksherrschaft wohl besser als «Herrschaft über das Volk» (und die Stimmzettel) gedeutet würde.
Bangladesch: Wahlen ohne Opposition
Bangladesch ist ein gutes Beispiel dafür. Die Einforderung demokratischer Prozesse ist ungebrochen, und Premierministerin Sheikh Hasina weiss, dass sie diese zulassen muss – und sei es in erster Linie, um wichtige Geldgeber wie die USA und die EU bei Laune zu halten. Aber nach fünfzehn Regierungsjahren und drei Amtsperioden weiss sie auch, wie man mit diesen Prozessen spielen kann, um Wahlsiege zu programmieren und dennoch weiterhin als echte Demokratin dazustehen.
So versteckt sich die Alleinmacht der Regierungspartei hinter einer Grossen Koalition von «unabhängigen» Kleinparteien. Diesmal kommen weitere Formationen hinzu, die ebenfalls als King’s Parties gelten und sich die rund dreissig Sitze (von insgesamt 300) streitig machen, die ihnen die Regierungspartei gnädig überlässt. Es wird angenommen, dass die meisten von ihnen später der Koalition beitreten werden.
Der Grund für dieses Schaulaufen ist der Wahlboykott der beiden grossen Oppositionsparteien Bangladesh Nationalist Party (BNP) und Jamaat Islami. Die BNP-Präsidentin Begum Khaleda Zia steht – nach einer langen Haftstrafe – unter Hausarrest und zahlreiche ihrer Kader sind im Polizeigewahrsam, ebenso wie jene der Jamaat. Als einer der wenigen noch aktiven Oppositionspolitiker kürzlich die Zahl von 20’000 Inhaftierten nannte, wurde er vom Justizminister zurechtgewiesen; das sei gar nicht wahr, es seien nur 10’000.
Die Einschüchterung der Medien sowie die restriktive Visa-Praxis gegenüber Auslandskorrespondenten sorgen dafür, dass Berichte über schwere Menschenrechtsverletzungen keine Wirkung entfalten. Zudem hat Sheikh Hasina es verstanden, die Grossmächte USA, China und EU gegeneinander auszuspielen und den Grossen Bruder Indien mit wirtschaftlichen Lockmitteln und Transportkorridoren bei Laune zu halten (Bangladesch grenzt von drei Seiten an Indien).
Der weltweit hochgeachtete Ökonom und Friedensnobelpreis-Träger Mohammed Yunus wird seit Jahren mit Justizklagen eingedeckt (es sollen über 160 sein), obwohl er mit seiner Kritik an Hasinas Regierungsstil zurückhält. Letzte Woche wurde er zu sechs Monaten Haft verurteilt, unter anderem weil in der von ihm mitgegründeten Grameen Bank einige Teilzeitarbeiter nicht wie versprochen zu Festangestellten befördert wurden.
Beobachter fragen sich, was Hasinas autokratischen Machtreflex begründet. Sie hat es verstanden, Bangladesch nicht nur aussenpolitisch, sondern auch wirtschaftlich voranzubringen. Das Pro-Kopf-Einkommen hat sich verdreifacht und hat es dem Land erlaubt, aus der Gruppe der ärmsten Staaten hochzusteigen. Auch sozialpolitisch, etwa bei der aktiven Rolle der Frauen, kann sich Hasinas Leistungsausweis sehen lassen. (Dass Mohammed Yunus’ Grameen Bank dazu mehr beigetragen hat, ist wohl mit ein Grund, weshalb sie ihn zur Unperson machen möchte.)
Pakistan: Wahlen von Interimsregierung überwacht
Auch in Pakistan ist Haft ein probates Mittel, um unliebsame Konkurrenten aus dem Verkehr zu nehmen, gefolgt von einem Zwangsexil. Der frühere Premierminister Imran Khan kann ein Lied davon singen. Er sitzt seit einem Jahr im Hochsicherheitsgefängnis der Garnisonsstadt Rawalpindi. Soeben liess ihn ein Gericht abblitzen, als er um eine zeitweilige Entlassung ersuchte, um am Wahlkampf teilnehmen zu können.
Khan hatte sich mit seinen militärischen Promotoren überworfen und wurde abgesetzt. Nun wäre seine Regierungszeit zu Ende und für den 8. Februar sind Neuwahlen angesetzt. Auch ohne ihren Führer kann Khans Partei zum Spielverderber werden, umso mehr als die Armee eine neutrale Interimsregierung zuliess, welche die Wahlen überwacht. (In Bangladesch wäre dies ebenfalls gesetzlich verpflichtend, doch Sheikh Hasina wollte nichts davon wissen).
Es ist unklar, ob Imran Khan seine Lektion gelernt hat und sich mit seinem erzwungenen Maulkorb abzufinden beginnt. Er liess sich in absentia in drei Wahlkreisen als Kandidat seiner Partei einschreiben. Beobachter gehen davon aus, dass er mindestens in einem gewinnen wird. Aber ob seine Partei die Wahlen gewinnt, ist unsicher. Die Armee liess zahlreiche Parteikader aus dem Verkehr nehmen und will dafür sorgen, dass die Logistik der Wahlkampforganisation damit teilweise lahmgelegt wird.
Imran Khan wird kalkulieren, dass das alte Bonmot von den Totgesagten, die länger leben, auch für ihn gilt. Er kann sich ein Beispiel am ehemaligen Premierminister Nawaz Sharif nehmen. Auch dieser hatte sich – zweimal – mit der Armee überworfen, kam in Haft und wurde nach dem zweiten erzwungenen Rücktritt vom neuen Joker Imran Khan abgelöst. Sharif landete ein weiteres Mal im Exil, seine Tochter und politische Erbin Mariam wurde zudem mit einem lebenslangen Politik-Verbot belegt.
Und nun sind die beiden wieder in Pakistan und führen den Wahlkampf der Regierungspartei Pakistan Muslim League an, die ihren offiziellen Titel PML(Nawaz) wohlweislich nie abgelegt hatte. Die Gerichte, die sich früher die berüchtigte «Doctrine of necessity» zu eigen gemacht hatten, machten einen ebenso glatten Rückzieher und liessen die Korruptionsvorwürfe als «ungenügend bewiesen» fallen.
Die pakistanische Armee hat sich so oft als Retterin der Demokratie aufgespielt – und die Politiker als deren Hampelmänner geächtet –, dass inzwischen grosse Teile der Bevölkerung die Offiziere als «Necessity» akzeptieren. Erst als sich Imran Khan gegen seine Beschützer absetzte und an echte demokratische Instinkte appellierte, wurde er gefährlich und musste in die Schranken gewiesen werden. Insofern ist Nawaz Sharif ein sicherer Wert: Er wird mit Sicherheit kein drittes Mal radikale Demokratie einfordern; schliesslich will er seiner Tochter den dynastischen Stafettenstab übergeben, und keine Handschellen.
Indien, die ramponierte «Mutter der Demokratie»
Im Vergleich mit seinen Nachbarn Bangladesch und Pakistan mutet die ebenfalls anstehende Parlamentswahl in Indien wie eine echte demokratische Wahl an. Die BJP hat zwar die Startvorteile der parlamentarischen Mehrheitspartei. Sie hat mit Narendra Modi ein charismatisches Naturtalent eines Politikers, der nichts lieber tut, als sich ins Wahlkampfgewühl zu stürzen und dort seine gefürchteten Seitenhiebe und Fusshaken auszuteilen. Aber das ist eben demokratische Politik!
Wenn er es doch nur bei seinen vergifteten Pfeilen belassen würde! Aber Modi weiss zu gut, dass das riesige Sammelbecken von 800 Millionen Wählern zu widersprüchlich, launisch und wählerisch ist, um sich auf seine Rhetorik verlassen. Deshalb vergreift er sich an institutionellen Mechanismen, die die Gewichte von vorneherein zu seinen Gunsten verschieben.
Schon seit Monaten ist Modi praktisch jeden Tag mit der ganzen logistischen Infrastruktur eines regierenden Amtsträgers unterwegs, um die Leistungen seiner Politik herauszustreichen, obwohl es vielleicht Programme sind, die bereits vor seiner Amtszeit begonnen wurden. Und er dreht die staatlichen Entwicklungspläne in persönliche Geschenke des Vaters der Nation um.
Seit Wochen (und lange bevor die Wahlkommission den Startschuss zum Wahlkampf gegeben hat) sind Prozessionen von Lautsprecherwagen mit uniformierten «Freiwilligen» durch die Dörfer unterwegs, die Leistungen Modis verkündend. Die Farben der Wagen und Uniformen sind nicht die der nationalen Embleme, sondern jene der BJP-Parteifahnen.
Gewichtiger sind die institutionellen Veränderungen. Erst vor einigen Tagen veränderte das Parlament den Verfassungsparagraphen über die Wahlkommission. Sie wird in Zukunft nicht mehr durch ein Dreierkollegium von Premierminister, Oberstem Richter und dem Führer der Opposition bestimmt. Fortan wird ein Regierungspolitiker die Stelle des Richters übernehmen und damit das Tor für politische Einflussnahme öffnen.
Dies klingt wie ein Detail. Aber Experten sind sich einig, dass es bisher die von der Verfassung garantierte Unabhängigkeit und Macht der Wahlkommission waren, die Indien zu einem demokratischen Musterstaat gemacht haben. Trotz Armut, langen Anstehzeiten und komplizierten Kontrollen ist der Wahltag jedesmal ein Volksfest, und dies schon (lediglich mit einer kurzen Ausnahme) 75 Jahre lang. Narendra Modi unterlässt keine Gelegenheit, um sein Land als «Mutter der Demokratie» zu preisen – während er emsig dabei ist, diese Errungenschaft zu demontieren.