Sein Stil ist so entspannt und souverän, als ob er beim Schreiben nie an den zu verführenden Leser und die in den Medien so gierig verfolgte Einschaltquote gedacht hätte. Jean-Paul Marchand ist Professor für Mathematik und Theoretische Physik. In der Freizeit ist er auch Musiker und verfasst seine Essays.
Wenn der an der Universität Denver, Colorado Lehrende in den Sommerferien jeweils ein paar Wochen in der Schweiz weilte, kokettierte er bei unseren Mittagessen im Cooperativo in Zürich allerdings mit dem Gedanken, seine Zeit ganz dem Schreiben und der Philosophie zu widmen. Aber er blieb dann doch bei seinen Fächern, in die er während drei Jahrzehnten auch seinen amerikanischen Studenten einführte. Er weilte zudem nie längere Zeit an einem Ort, ohne als Geiger in einem Hausorchester mitzuwirken. Jetzt nach seiner Rückkehr in das heimatliche Murten hat er im Berner „Kulturbuchverlag Herausgeber“ seine schreiberische Ernte publiziert in drei Bändchen mit den Titeln „Erinnerungen“, „Golzen“ und „Weltanschauung“.
Darin findet man unter anderem den Traum über Hornissen. Als sich ein solches Tier auf seine Schläfe setzte, dachte er zuerst daran, sie zu erschlagen. Aber dann erinnerte er sich, dass ein Stich an dieser Stelle tödlich sein könnte. Die Situation wurde noch riskanter, als sich eine zweite Hornisse auf seinen Nacken setzte. Jetzt wäre ein Helfer nötig gewesen, der gleichzeitig auf die Nummer zwei eingeschlagen hätte. Ausserdem glaubte der Träumende zu fühlen, wie die Hornissen auf seine Tötungspläne mit Gegenwehr reagierten und ihre Stacheln in Position brachten. Sie stellten diese Vorbereitungen wieder ein, sobald er nicht mehr ans Zuschlagen dachte. Erstaunt war der Träumende über die Verwandlung der Mitmenschen. Sie sahen im Bekannten nur noch das von Hornissen bedrohte Objekt. Er selber schien nicht mehr zu existieren. Erst als er sich mit der Nachbarschaft der Hornissen abfand, kehrten auch die Mitmenschen zum vertrauten Dialog zurück.
Cäsar ist kein Golz
Solche Hinnahme einer Situation (Vertigo in der Psychologie) findet man bei Marchand nicht nur im Traum. Bei einer Wickeltherapie im Allgäu wurden ihm die Arme am Rumpf festgebunden. Als ein unerträgliches Jucken am Fuss einsetzte, konnte er nicht reagieren. Er löste aber keinen Alarm aus, sondern versuchte sich abzulenken. Als das Ignorieren nicht half, probierte er das Gegenteil und widmete dem Jucken seine ganze Aufmerksamkeit. Unter dieser Konzentration wurde der Schmerz abstrahiert und verwandelte sich in eine geometrische Figur. Eine Lösung, die den Betroffenen friedlich einschlafen liess. Vielleicht hängt diese Art von Reaktion auch zusammen mit der von Marchand schon vor Jahrzehnten entwickelten Golzentheorie, die er im zweiten Bändchen beschreibt.
Golzen findet man oft in der Funktion des Vize-Präsidenten. Es geht also nicht um Machtmenschen, die unbedingt an der Spitze stehen müssen. Julius Cäsar, der lieber in einem Dorf der erste sein wollte als in Rom der zweite, ist definitiv kein Golz. Dagegen könnte man bei Marchand selber golzische Elemente vermuten. Eine nachdenkliche Person, die Zusammenhänge verstehen und richtig einordnen will, ohne an eigene Aktionen oder gar eine politische Rolle zu denken. Für ihn sind auch Situationen golzisch, das heisst auf eine Art ambivalent oder zumindest nicht eindeutig. Ein golzischer Witz lässt kein schallendes Gelächter ausbrechen, weil er oberflächlich nicht unbedingt einleuchtet und sein verborgener Tiefsinn oder die Ironie den Zuhörenden erst später bewusst wird.
Odysseus geht heim
Es liegt an der Art der Golzen, dass sich ihr Wesen jeder knappen journalistischen Charakterisierung entzieht. Hier soll nur verraten werden, dass Marchand auch in der Musik golzische Elemente entdeckt wie die Synkope, den Vorschlag und den Übergang zu einer anderen Tonart, die Modulation. Es gibt auch Golzen in der Literatur wie etwa Franz Kafka. Im Essay über Odysseus übergeht Marchand die Heldentaten in Troja, die Listen während der Odyssee und die Abrechnung mit den Freiern um Penelope, die sein Eigentum verprassen. Ihn beschäftigen die Gedanken, die den äusserlich gerade recht komfortabel situierten Helden zur Heimkehr nach Ithaka bewegen.
Wenn der Stil, wie eingangs erwähnt, so entspannt und souverän wirkt, so hängt dies natürlich auch mit der verspielten Auswahl der Themen zusammen. Der Urknall und das schwarze Loch spielen dabei ebenso eine Rolle wie der maliziöse Charakter eines Spielautomaten oder der erfolgreiche Trick eines Velo-Schmugglers. Die Oberfläche ist selten dramatisch, aber fast immer gibt es da ein Stück Tiefsinn, das sich einem allmählich erschliesst. Wenn man die Sammlung mit einem Wort bezeichnen wollte, so eignet sich am besten der Ausdruck „Streifllichter“, mit dem die „Süddeutsche Zeitung“ seit Jahrzehnten ihre berühmten Feuilletons auf der Titelseite bezeichnet.
Jean-Paul Marchand, Texte 1: Erinnerungen, Texte 2: Golzen, Texte 3: Weltanschauung, Kulturbuchverlag Herausgeber, Bern 2011, einzeln Fr.16, zusammen Fr.40.